Elf Jahre lang arbeitete sie am Traumort Playa del Carmen, traf hier die Liebe ihres Lebens und schwärmte von der Fröhlichkeit der Einheimischen. Jetzt lebt Kristin Lehmann wieder in ihrer Heimatstadt Sangerhausen. Wie kommt’s?
Von Janine Gürtler
Dutzende Kisten und Kartons stapeln sich auf dem Fußboden, im Wohnzimmer bilden rote Gummimatten ein provisorisches Schlaflager. Die Wohnung von Kristin Lehmann in Sangerhausen ist noch mehr Baustelle als gemütliches Zuhause. Trotzdem ist die 29-Jährige glücklich, wieder in der Heimat zu sein. Und das zehn Jahre später als ursprünglich geplant. Nur für ein Jahr wollte die damals 18-Jährige aus dem Harzstädtchen Derenburg „weg“. Frisch nach dem Abitur lockte die Abenteuerlust und ein Animateurjob sie ins mexikanische Playa del Carmen. „Ich wollte einfach die Welt erkunden, bevor das Studium losging.“ In den Hörsaal aber hat Lehmann es nie geschafft. Stattdessen wurden aus zwölf Monaten elf lange Jahre in Mexiko. „Die beste Zeit meines Lebens“, sagt sie heute.
Nach Mexiko ausgewandert: „Ich wollte nur noch nach Hause“
Vor allem, so Lehmann, weil sie hier erstmals in ihrem Leben komplett auf sich allein gestellt war. Sie habe gelernt, sich im Job durchzubeißen, auch ohne Ausbildung oder Studium Karriere gemacht, ihren Mann Alfredo kennengelernt, ihre gemeinsame Tochter Elea zur Welt gebracht. „Ich bin in Mexiko quasi erwachsen geworden“, sagt die blonde Frau mit der kantigen Brille. Und dabei wäre das Abenteuer beinahe vorbei gewesen, bevor es richtig angefangen hat. Denn nach nur zwei Monaten im neuen Land war sie kurz davor, alles hinzuschmeißen. „Ich konnte null Spanisch. Als ich angekommen bin, habe ich niemanden verstanden.“ Sie ist bei weitem die jüngste im Team, vor allem von den Männern muss sie sich immer wieder sexistische Zoten und Lästereien anhören. „Ich wollte nur noch nach Hause“, sagt Lehmann.
Aber die Sachsen-Anhalterin beißt sich durch, paukt mit ihrer Mitbewohnerin Spanisch und findet schließlich auch im Team Anschluss. „Da sind so viele Freundschaften mit Gästen und Kollegen entstanden, die über Jahre und Kontinente hinweg gehalten haben“, schwärmt sie.
Erster Job in Mexiko: 15-Stunden-Tage für weniger als 400 Euro im Monat
Der Job ist allerdings alles andere als bezahlter Urlaub. Sie schuftet sechs Tage die Woche, ihr Arbeitstag beginnt um 9 Uhr morgens und endet offiziell um Mitternacht. Und danach geht es oft noch weiter. „Wir haben die Gäste jede Nacht zu den Diskos in der Stadt genommen, egal wie müde wir waren. Nicht weil wir unbedingt feiern, sondern unser Gehalt mit der Provision von den Clubs aufbessern wollten.“ 8.000 Pesos, etwa 340 Euro verdient Lehmann im Monat. Wenig Geld, selbst für ein Niedriglohnland wie Mexiko. Oft fällt sie erst nachts um drei Uhr todmüde in ihr Wohnheim-Bett, das das Hotel stellt.
“Wir haben die Gäste jede Nacht zu den Diskos in der Stadt genommen, egal wie müde wir waren. Nicht weil wir unbedingt feiern, sondern unser Gehalt mit der Provision von den Clubs aufbessern wollten. ”
Leben hinter Hotelmauern in Playa del Carmen
Auch deshalb lernt sie im ersten Jahr das Land kaum außerhalb der Hotelmauern kennen. Und sie merkt schnell: Der Kunde ist König, immer. Auch wenn sie sich mal elend fühlt, für die Gäste muss sie immer gut gelaunt sein. Selbst ob sie Frühstück, Mittag oder Abendessen im Hotel bekommt, hängt von der Gutmütigkeit ihrer Gäste ab, erzählt sie. „Die Regel lautete, dass wir immer mit den Gästen am Tisch essen sollten. Und gerade in der Nebensaison war es schwierig, jemanden zu finden, der Lust darauf hatte. Das war für uns dann halt doof“, sagt Lehmann und lacht.
Trotzdem genießt sie die Zeit so sehr, dass sie auch nach Ablauf ihres Jahres nicht zurück nach Deutschland will. „Ich wollte sehen, was ich hier erreichen kann“, sagt die 29-Jährige. Nur die Arbeit als Animateurin wird ihr irgendwann zu viel. „Ich brauchte mal einen richtigen Job.“ Lange umschauen muss sie sich nicht, eine Touristenstadt wie Playa del Carmen braucht immer Leute.
Mit ihrem neuen Job als Rezeptionistin in einem kleinen Hotel lernt sie zum ersten Mal auch die bürokratischen Seiten Mexikos kennen. „Ich konnte zwar schon ganz gut Spanisch, aber es gibt hier echt viele Sachen, die man als Expat falsch machen kann“, erinnert sich die Auswanderin. Weil sie die Immigrationsbehörde zu spät über ihren Jobwechsel informiert, muss sie zeitweise sogar um ihr Visum bangen. Am Ende kommt sie relativ glimpflich davon. Sie muss 6.000 Pesos, umgerechnet rund 180 Euro Strafe zahlen. Das klingt für deutsche Ohren zwar nach nicht viel: „Aber wenn du nur 7.000 Pesos im Monat verdienst, ist das nicht mehr lustig.“
Leben im Ausland: Wie ticken Mexikaner?
Dass deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit in Mexiko eher weniger verbreitet sind, merkt Lehmann, als sie ihre erste eigene Wohnung mietet. Gibt es Probleme mit der Dusche oder leckt der Wasserhahn, kann sie nicht einfach den nächstbesten Handwerker anrufen. „Da muss man erstmal jemanden finden, der die Arbeit überhaupt machen will und dann auch wirklich am vereinbarten Tag kommt“, sagt die fröhliche junge Frau. „Mañana, mañana“, zu deutsch etwa „Das machen wir morgen“ sei ein Spruch, den sie hier oft gehört habe. „Da bleiben unheimlich viele Sachen liegen, da kann man nichts dagegen machen.“
An die Gelassenheit der Mexikaner hat sie sich zwar gezwungenermaßen gewöhnt, ihre deutsche Pünktlichkeit konnte sie aber selbst nie wirklich ablegen. „Es hat mich schon genervt, wenn meine besten Freunde mich 40 Minuten lang haben warten lassen.“ Die Freundlichkeit und gute Laune der Mexikaner würde das aber immer wieder wettmachen. „Selbst in den schlimmsten Situationen haben sie noch schwarzen Humor. Die Menschen hier können sehr gut über sich selbst lachen“, sagt die Deutsche. Nur bei einer Sache werden die Mexikaner sensibel: Kritik. „In Mexiko muss man vieles durch die Blume sagen, weil sie sich alles sehr zu Herzen nehmen.“ Wenn man zum Beispiel jemanden im Streit Ignoranz vorwerfe, dann sei das wie ein Schlag unter der Gürtellinie. „Das ist für einen Mexikaner so schlimm, als ob man ihn ohrfeigen würde.“
Drogendeals und Schießereien: Wie gefährlich ist Playa del Carmen?
Durch den Job im Tourismus lernt sie auch die Schattenseiten des Urlaubsparadies kennen. „Playa del Carmen ist eine wunderschöne Stadt, aber die Kriminalität ist extrem hoch.“ Schießereien zwischen konkurrierenden Gangs, Drogendeals auf offener Straße, selbst Kinderprostitution in dunklen Club-Hinterzimmern, all das sei in Playa del Carmen an der Tagesordnung. Auch die Übergriffe auf Frauen hätten über die Jahre zugenommen, sagt sie. „Früher konnte man allein bis nachts um drei Uhr unterwegs sein, heute geht das nicht mehr.“
“Früher konnte man allein bis nachts um drei Uhr unterwegs sein, heute geht das nicht mehr.”
Im Küstenstaat Quintana Roo, in dem beliebte Touristenhochburgen wie Cancún, Tulum und eben Playa Del Carmen liegen, operieren seit Jahren Drogenkartelle. Und die Touristen selbst sorgen für eine rege Nachfrage nach Drogen. Immer wieder gibt es tödliche Schießereien, erst im Juni starben zwei Menschen im Kugelhagel im nahen Cancún, eine amerikanische Touristin wurde verletzt. „Das ist halt die Seite Mexikos, die viele Touristen gar nicht kennen oder nicht sehen wollen.“ Selbst viele Auswanderer hätten ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, meint die Deutsche. „Ich hatte aber von Anfang an einen rein mexikanischen Freundeskreis, da sieht man das schnell anders.“ Abgeschreckt hat das Lehmann jedoch nie.
Auswanderer-Leben in Mexiko: Karriereleiter nach oben geklettert
Sechs Jahre lang arbeitet sie bei einer großen europäischen Hotelkette, klettert die Karriereleiter nach oben. Sie wird Concierge, arbeitet in der PR-Abteilung, betreut Gruppen und Kongresse und plant schließlich als Wedding Planerin Hochzeiten für bis zu 250 Gäste. „Irgendwann stand es gar nicht mehr zur Debatte, dass ich nach Deutschland zurückgehe“, meint Lehmann. Das liegt wohl auch daran, dass sie 2017 hier ihre große Liebe gefunden hat.
Bei einem Urlaub in Puebla, einer Großstadt in der Nähe von Mexiko Stadt, lernt sie Alfredo kennen. Er ist groß, nicht der „typische mexikanische Macho“, wie sie sagt, und ein guter Tänzer. „Es heißt ja immer, das gibt es nicht. Aber es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt die Blondine, die selbst 1,78 Meter misst. Sie verbringen nur ein paar Tage zusammen, bevor Lehmann wieder zurück nach Playa del Carmen muss. Sie besuchen sich zweimal, dann geht alles ganz schnell. Vier Monate später gibt er seinen Job bei einem deutschen Automobilzulieferer in Puebla auf und zieht zu ihr ins 1.500 Kilometer entfernte Playa del Carmen. Alfredo fängt in der Hotelrezeption an, im Januar 2019 kommt Tochter Elea zur Welt. Im November 2020, noch mitten in der Corona-Pandemie, heiraten die beiden.
“Irgendwann stand es gar nicht mehr zur Debatte, dass ich nach Deutschland zurückgehe.”
Nach elf Jahren in Mexiko zurück nach Sachsen-Anhalt
Dass Kristin Lehmann am Ende doch nach Hause gefunden hat, dafür ist vor allem ihre Tochter verantwortlich. „Vorher wollte ich niemals zurück, seit der Geburt von Elea denke ich aber ganz anders über Deutschland“, meint die Weltenbummlerin. Bei einem Besuch in Derenburg im Januar 2020 sei es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen: „Ich habe gesehen, wie meine Eltern fast vor Liebe für Elea zerflossen sind, und konnte ihnen das nicht vorenthalten.“ Dazu kommen die Faktoren, die häufig für Rückkehrer eine Rolle spielen. Die Sicherheit, das Gesundheitssystem, die gute Schulbildung, zählt Lehmann auf. „Die Kinder können hier noch allein zur Schule gehen, das geht in Mexiko nicht.“
Zurück in Sachsen-Anhalt will sie nun ihren Eltern, die sich jahrelang allein um ihre schwerstbehinderte Schwester Anke gekümmert haben, mehr unter die Arme greifen. Zwischen ihrer Wohnung in Sangerhausen und dem Elternhaus in Derenburg liegt nur eine Autostunde, gerade ist sie so gut wie jeden Tag da. Anke kann nicht sprechen, laufen oder allein essen. Sie hat steife Gelenke und einen gekrümmten Rücken, sitzt daher im Rollstuhl. Einfach mal als Paar ins Restaurant zu gehen, das kam für ihre Eltern jahrelang nicht in Frage. „Ich will ein bisschen was von dem zurückgeben, was meine Eltern für mich aufgegeben haben.“
“Ich musste sogar meine Mama fragen, wie man Strom anmeldet.”
Wie gelingt die Rückkehr nach elf Jahren in Mexiko?
Zurück in Deutschland zu sein, sei schön, aber gar nicht so einfach, meint die Rückkehrerin. Weil in Mexiko viele Dinge ganz anders liefen, muss Lehmann erst lernen, wie Behördengänge und das Leben in Deutschland funktionieren. „Da fühle ich mich wie ein Reh auf der Fahrbahn. Ich musste sogar meine Mama fragen, wie man Strom anmeldet.“ Immerhin, sagt die Wahl-Sangerhäuserin, allein sei sie damit nicht. Ihrem Mann gehe es schließlich genauso.
Im September will sie nun das nachholen, wozu sie in Mexiko nie gekommen ist: den Hochschulabschluss. Lehmann will Öffentliche Verwaltung an der Hochschule Harz studieren, um bei der Mansfelder Kreisverwaltung zu arbeiten. Ein gediegener Bürojob nach Jahren im Tourismus: Kann das gutgehen? „Das ist heute das Richtige für mich“, antwortet sie. Abenteuer hatte sie schließlich genug.
Der Artikel erschien zuerst in der Mitteldeutschen Zeitung und auf MZ.de.