Auswandern nach Vinaros

Gleich zweimal stand Auswanderer Michael Kugler in Spanien vor dem Nichts. Seit der Corona-Pandemie ist der Reiseleiter ohne Aufträge. Zurück nach Deutschland zieht ihn aber nichts. 

Von Janine Gürtler

Eigentlich sollte 2020 ein super Jahr für Michael Kugler werden. Noch im Januar vergangenen Jahres konnte sich der Reiseleiter im spanischen Vinaròs vor Buchungen kaum retten, seine Partnerin Anne hatte schon Dutzende Anfragen für die Vermietung der von ihr verwalteten Ferienhäuser. Dann kam die Corona-Pandemie – und mit ihr die Arbeitslosigkeit für das Paar. 15 Monate lang keine Touristen. Null Aufträge. Und damit auch keine Einnahmen. „Die Pandemie hat uns quasi den Garaus gemacht“, sagt der gebürtige Hallenser.

Rückblick: Eigentlich hatte Kugler in seiner Heimatstadt Halle alles, was man so glaubt, im Leben zu brauchen. Einen sicheren, gut bezahlten Job, eine Wohnung mit Dachterrasse im Herzen der Stadt, viele Freunde. Nur der Freiraum, sein Leben auch zu genießen, der hat ihm gefehlt. „Ich habe viel Geld verdient, aber auch viel gearbeitet, teilweise Tag und Nacht“, sagt der 51-Jährige. Wenn andere an Samstagen entspannten, saß der gelernte Verkäufer in seinem kleinen Büro bei einer Lkw-Vermietung und führte Kundengespräche. „Für mich aber war das nicht genug. Ich wollte nicht nur aufstehen, arbeiten, 30 Tage Urlaub im Jahr machen“, blickt Kugler zurück.

Auswandern nach Spanien: Ohne Spanisch kommt man nicht weit

Er will mehr Lebensqualität, sein eigener Chef sein – auch wenn er dafür vielleicht weniger Gehalt in Kauf nehmen muss. Weil sein jüngerer Bruder in spanischen Vinaròs an der Costa del Azahar lebt, muss er auch nicht lange überlegen, wohin er will. „Ich war sehr oft in Spanien und habe mich hier sehr wohl gefühlt.“

Die Strandpromenade von Vinaròs. (Foto: Tourist Info Vinaròs)

Er bereitet den Umzug lange vor, legt ein Jahr lang Geld beiseite und besucht ein paar Spanischkurse, bevor er schließlich im Herbst 2008 seine Koffer packt. Unvorbereitet kann man Kugler nicht nennen. Einfach war der Neuanfang deshalb trotzdem nicht. „Das erste Jahr war schon sehr einsam“, erinnert sich der Auswanderer. „Ich konnte nur ein paar Brocken Spanisch, und mit Englisch kommt man in Spanien nirgendwo weit.“ 

„Die Zeit war furchtbar. Drei Jahre Arbeit waren einfach futsch.”

Michael Kugler

Gemeinsam mit seinem Bruder eröffnet er eine Bar in Vinaròs, Kugler kümmert sich ums Organisatorische und den Papierkram, sein Bruder steht hinterm Tresen. Zwei Jahre lang läuft die Bar läuft bestens. Bis zum Herbst 2011. „Da hat uns die Wirtschaftskrise eingeholt“, sagt Kugler, „die Kunden waren noch da, aber die meisten hatten einfacher weniger Geld, das sie bei uns ausgeben konnten.“ Weil die Einnahmen ausbleiben, können die beiden die Miete für die Bar nicht mehr zahlen. Der Pächter klagt, innerhalb weniger Wochen müssen sie die Bar räumen. Zurück bleiben nur 20.000 Euro Schulden. „Die Zeit war furchtbar. Drei Jahre Arbeit waren einfach futsch“ sagt er. Der Rückschlag wirkt sich auch auf das Verhältnis der Brüder aus. „Uns ging es beiden sehr schlecht. Es gab auch eine Zeit, in der wir nicht mehr wirklich miteinander konnten.“ Doch so schnell gibt Kugler nicht auf. 

Auswandern Spanien: Jobwechsel in der Krise

Von einem Bekannten bekommt er den Tipp, sich als Busreiseleiter bei einer Agentur im nahen Peníscola zu bewerben. Die winzige Stadt mit der mittelalterlichen Burg und den weißen Sandstränden zählt gerade einmal rund 8.000 Einwohner, in der Hochsaison tummeln sich hier bis zu 250.000 Besucher. Innerhalb weniger Wochen lernt er das Handwerkszeug im Tourismus, schaut sich viel von seinen Kollegen ab, und leitet schnell eigene Bustouren für deutsche Touristengruppen durch ganz Spanien und Portugal. Er sieht Städte wie Madrid, Toledo, Salamanca, Sevilla. An manchen Wochen jeden Tag eine andere. „Ich kenne Spanien mittlerweile besser als so mancher Spanier“, meint der Auswanderer und lacht. Bei seinen Touren ist ihm vor allem wichtig, den Deutschen nicht nur die Geschichte seines neuen Heimatlandes, sondern auch die wirtschaftliche Situation zu erklären und die spanische Lebensweise näherzubringen. Das fängt schon bei den Abendbrotzeiten an. „Wenn es hier in Spanien um 21 Uhr Abendessen gibt, dann ist ein deutscher Rentner ja schon fast verhungert“, scherzt der Deutsche.

„Ich kenne Spanien mittlerweile besser als so mancher Spanier.”

Michael Kugler

Der Job macht ihm Spaß, auch wenn er anstrengend sein kann. In der Urlaubssaison ist er monatelang auf Tour, einen schlechten Tag kann er sich da nicht erlauben. „Du bist 24/7 mit Gästen zusammen, hast so gut wie keine Privatsphäre, und bist irgendwann einfach nur groggy. Aber die nächste Gruppe verdient natürlich einen genauso gut gelaunten und ausgeruhten Reisebegleiter.“ 

Arbeiten in Spanien: Hallenser arbeitet nur sechs Monate im Jahr

In der Nebensaison hat er dafür komplett frei. Zwei Monate im Sommer und vier Monate im Winter – Zeit, die er mit seiner Partnerin Anne verbringt. Die 38-Jährige aus Bad Soden in Hessen hat er über Umwege durch seinen Einsatz bei einem Tierschutzverein kennengelernt. Seit sieben Jahren rettet er Straßenhunde aus spanischen Tötungsstationen, päppelt sie auf und vermittelt sie an neue Besitzer in Deutschland. Wenn nicht gerade eine Corona-Pandemie die Welt im Griff hat, fährt er einmal im Monat mit dem Transporter die 3.000 Kilometer nach Deutschland. Und bei einem dieser Trips lernte er 2014 auch Anne kennen. „Ich war schon beim ersten Anblick verzaubert“, schwärmt der Hallenser. Er besucht sie wann immer er kann, nach wenigen Monaten sind die beiden unzertrennlich. Als Anne 2017 eine schwere Lungenentzündung bekommt und ihren Job verliert, nimmt er sie und ihre Tiere (drei Hunde, eine Katze und zwei Waschbären) mit zu sich nach Vinaròs. „Nach dem ersten Tag meinte sie zu mir: Ich geh’ hier nicht mehr weg“, sagt Kugler. 

5.000 Quadratmeter groß ist das Grundstück des 51-Jährigen und seiner Partnerin Anne. Genug Platz zum Toben für ihre insgesamt
acht Hunde. (Foto: Kugler)

Arbeiten in Spanien: Corona-Pandemie hat Hallenser aus der Bahn geworfen

Dann kommt der 13. März 2020. An dem Tag ruft Ministerpräsident Pedro Sánchez angesichts rapide steigender Corona-Zahlen den landesweiten Alarmzustand aus. „Vorher war das irgendwie weit weg, unwirklich. Und dann war die Welt von heute auf morgen eine andere“, erinnert sich der Hallenser. Seine Gäste stornieren der Reihe nach ihre Buchungen, die finanziellen Rücklagen sind schnell aufgebraucht. Seit über einem Jahr hält sich das Paar mit Hilfen des Staates und ihrer Eltern über Wasser. Doch während die Corona-Krise die beiden beruflich aus der Bahn geworfen hat, haben sie zumindest privat mehr Glück.

Nach drei Jahren erfolgloser Versuche wird Anne schwanger, im April 2020 kaufen die beiden eine Finca – ein Rohbau ohne Fenster und Türen. Zwei Monate hat Kugler Zeit, das Haus umzubauen und bewohnbar zu machen. Er schuftet bis zu 15 Stunden am Tag auf der Baustelle, damit Anne sich vor dem Geburtstermin im August im neuen Heim akklimatisieren kann. „Das waren die härtesten acht Wochen meines Lebens. Ich konnte am Ende kaum noch gehen“, sagt Kugler. Ende Juni ziehen sie ein, sechs Wochen später kommen die Zwillinge Sophie Sahela und Ronja Kalea zur Welt. 

Spätes Vaterglück für Michael Kugler. Im August 2020 kamen seine Zwillinge zur Welt. (Foto: Kugler)

Das Geld ist weiterhin knapp, dass sie für die Zwillinge alles im Doppelpack kaufen müssen, macht die Sache nicht einfacher. Wann der Tourismus in Spanien wieder anläuft, ist nur schwer absehbar. Momentan hofft Kugler, dass er im September wieder arbeiten kann. Versprechen kann ihm das aber natürlich niemand. Auch nicht, wie der Tourismus dann aussieht. „Wir müssen davon ausgehen, dass man zumindest am Anfang nicht mehr so einfach mit 50 Leuten durch die Gegend fahren kann“, glaubt Kugler. Und: Wenn die Tourismussaison im Herbst ausfällt, bedeutet das sechs weitere Monate keine Einnahmen. 

Auswanderer in Spanien: „Ein Leben in Deutschland ist für mich undenkbar.“ 

Doch der Hallenser ist kein Mensch, der Trübsal bläst. „Wir kommen über die Runden. Die Pandemie hat uns gezwungen, ein Jahr lang mal nicht zu arbeiten, mal nichts zu machen. Und das war auch ganz schön“, sagt der braungebrannte Auswanderer. Zurück wollten er und Anne trotz allem – auch in den langen Monaten der Arbeitslosigkeit – nie. Allein der Gedanke, nach Deutschland zurückzukehren, sagt er, bereite ihm schon unheimliches Unbehagen. „Ein Leben in Deutschland ist für mich undenkbar.“ 

Nicht, weil er keine guten Seiten mehr an seiner Heimat sieht: Deutschland sei ein tolles Land, betont der 51-Jährige. Er liebt Halle, denkt gern an Clubabende in der Schorre und Palette zurück, vermisst seine alten Freunde und seine Familie. „Weil ich jahrelang auch Autos in Halle verkauft habe, kannte ich auch Hinz und Kunz. Aber die Lebensmentalität der Deutschen, der Tagesablauf und die Art zu denken, damit komme ich partout nicht mehr klar.“ 

Das fängt schon bei der Arbeit an. „In Deutschland lebt man, um zu arbeiten, in Spanien ist es andersrum.“ Arbeit ist für Kugler nur noch ein Mittel zum Zweck, kein Lebensinhalt mehr. Er hat gelernt, sein Leben bewusster zu genießen und Projekte auch mal langsamer anzugehen. Das war gerade am Anfang nicht immer einfach. 

Leben in Spanien: Hier laufen die Dinge ein wenig anders

„Bis man seine eigene Verhaltensmuster umstellt, dauert es eine Weile. Es gab vor allem in meinem ersten Jahr in Spanien ganz oft Momente, in denen ich am Strand stand und mir sagen musste: ‚Mach mal langsam, jetzt laufen die Dinge anders.‘ Heute, sagt Kugler, hat er seine Balance – und auch mehr Gelassenheit – gefunden. Denn viele  Dinge dauern in Spanien einfach länger. Nicht nur, wenn es um bürokratische Dinge geht, sondern auch im Alltag. „Hier kommt es halt auch mal vor, dass ein Auto mitten auf der Straße anhält, weil er Tante Rosario auf dem Fußweg entdeckt hat und ein Schwätzchen halten will.“ 

Glücklich trotz Corona-Krise und fehlenden Aufträgen als Reiseleiter: Michael Kugler mit seiner Partnerin Anne und den Zwillingen. (Foto: Kugler)

Die Freundlichkeit und die Offenheit der Menschen, das gute Wetter und seine Unabhängigkeit im Job, sagt Kugler, sind nur ein paar der Dinge, die ihn Spanien halten. „Ich wohne hier am Strand, kann von unserem Dach aus das Meer sehen“, schwärmt er. Auf dem 5.000 Quadratmeter großem Grundstück blühen gerade die Obst- und Olivenbäume, in diesem Jahr steht die erste Olivenernte an. Ihre acht Hunde leben derzeit auf dem Gelände, dazu drei Katzen und vier Waschbären. Irgendwann wollen Anne und er auch Obst und Gemüse anbauen, ein paar Hühner halten, meint Kugler. Landleben pur also. 

Und auch wenn die Corona-Krise ihm so einige schlaflose Nächte bereitet hat, sagt der Auswanderer: „2020 war trotz allem für uns das beste Jahr. Wir haben unser Haus gekauft, unsere Babys bekommen, und wir hatten Zeit, sie aufwachsen zu sehen.“ Ein echter Stehauf-Mann eben.


Der Artikel erschien zuerst in der Mitteldeutschen Zeitung und auf MZ.de.