Markus Klenner in Moskau

Leben in Moskau: Selbstdiagnosen in der Apotheke

Das liege vor allem daran, dass die Russen meist selbst ihre besten Ärzte seien. „Jeder Russe ist im Prinzip ein ausgebildeter Mediziner“, sagt der Sangerhäuser. Wenn die Russen ein Zipperlein haben, diagnostizieren sie das nicht nur selbst, sondern wissen in der Apotheke auch genau, welches Mittel am besten hilft. „Die größte Kiste in jeder russischen Wohnung ist deshalb auch die Arzneikiste“, meint der Wahl-Moskauer und lacht.

“Mit 500 Rubel hatte sich das dann aber erledigt.”

Markus Klenner

Eigenartig ist für den Deutschen aber auch der Umgang mit Gesetzeshütern. Korruption ist in Russland weit verbreitet, das bekommt auch Klenner schnell am eigenen Leib zu spüren. Die ersten Monate wird er jede Woche von der Polizei angehalten, jede zweite Woche muss er für irgendeinem Vergehen ein Bußgeld zahlen. Sei es, weil die Übersetzung des Führerscheins nicht reicht oder der Stempel nicht lesbar ist. „Mit 500 Rubel hatte sich das dann aber erledigt.“ Mittlerweile habe sich das zwar sehr verbessert, Korruption sei aber immer noch ein Thema, meint Klenner. „Es gibt immer noch Polizisten, die sich ihr Gehalt durch solche Aktionen aufbessern.“

Auswandern nach Moskau: „Die Russen ticken ganz anders“

Und auch bei der Arbeit merkt er schnell: „Die Russen ticken ganz anders“. Obwohl er als Abteilungsleiter in der Luftfracht mit einem zehnköpfigen Team einsteigt, muss er sich den Respekt seiner Mitarbeiter erst erarbeiten. „Mein Chef hat das ganz gut erklärt“, sagt der Logistiker. „Du musst bei russischen Angestellten Samthandschuhe mit Stacheln anhaben.“ Denn vor zehn Jahren lief das Geschäft ganz anders als in Deutschland. „Die konnten damals noch dreimal so hohe Preise verlangen, weil sie auch dreimal so viel Personal brauchten, um dieselbe Mengen abzufertigen wie im durchorganisierten Deutschland“, erinnert sich Klenner. Nicht nur die Arbeitsweise seiner russischen Kollegen hat Klenner überrascht, auch ihr Eigenwille. 

Um frischen Wind in sein Team zu bringen, wollte Klenner die Mitarbeiter in neuer Formation zusammensetzen. Seine Idee: So könnten die langsameren von den schnelleren lernen. Alle schienen damit einverstanden. „Ich ging für zwei Wochen in den Urlaub und dachte, bis dahin seien alle umgesetzt.“ Doch seine Mitarbeiter sahen das plötzlich ganz anders. Der eine wollte nicht neben der Klimaanlage sitzen, die andere wiederum nicht an der Tür. Selbst um die Frage, wer wem auf den Computer schauen konnte, gab es Stunk.

“So einen Kindergarten hätte es in Deutschland nicht gegeben.”

Markus Klenner

„So einen Kindergarten hätte es in Deutschland nicht gegeben.“ Klenner erklärt das Phänomen mit einem Witz, den ihm der Firmeninhaber einst erzählt habe. „Gib einem russischen und einem deutschen Ingenieurteam einen Bauplan für einen Mercedes S-Klasse. Die Deutschen bauen dir eine S-Klasse, die Russen einen Lada, weil jeder nochmal seine eigene Meinung mit reinbringt.“ 

Russische Sitten: Kühlschrank wird leergeräumt

Auf der anderen Seite, betont Klenner, seien die Moskauer aber auch unglaublich aufgeschlossen und gastfreundlich. Auch wenn sie zu Beginn vielleicht kühl wirkten. Das komme noch aus Sowjetzeiten, hat ihm seine Russischlehrerin mal erklärt. Weil die Menschen damals auf engstem Raum wohnten – und es besonders in Moskau teilweise immer noch tun –, sei die Privatsphäre auch heute noch enorm wichtig. Hat man jedoch diese Barriere überwunden, so der Wahl-Moskauer, würden die Menschen selbst ihr letztes Hemd für ihre Gäste geben. „Da wird der Kühlschrank leer gemacht, egal ob das Budget dann nicht mehr für das eigene Essen am nächsten Morgen reicht“, sagt Klenner. Deshalb gibt der Deutsche auch gern etwas zurück, seit ein paar Monaten engagiert er sich im Rotary Club, verteilte zum Beispiel in einer Suppenküche Essen an Bedürftige.

Markus Klenner engagiert sich im Rotary Club, während der Corona-Pandemie half er
zum Beispiel in einer Suppenküche aus. (Foto: Klenner)

Wenn es um Russlands Politik geht, hält sich der Auswanderer aber auch nach elf Jahren in Gesprächen mit russischen Freunden und Kollegen betont zurück. „Egal, wie lange ich hier schon lebe – ich werde immer als Außenseiter gelten, der da nicht mitreden kann.“ In dem Land, das nun seit 21 Jahren von Präsident Wladimir Putin regiert wird – und in dem Wahlen eigentlich nur der Bestätigung des Machtsystems dienen – gebe es durchaus unterschiedliche Meinungen zu Putin, das merkt Klenner auch im Büro. „Aber viele Menschen erinnern sich an den Hunger und die Not zu Sowjetzeiten und sagen sich dann: ‘Irgendwas muss Putin ja richtig machen’.“

Von Moskau zurück nach Sachsen-Anhalt?

Zieht ihn nach elf Jahren im Ausland also rein gar nichts nach Deutschland zurück? „Im letzten Jahr war ich drauf und dran, alles hinzuschmeißen“, gibt Klenner zu. Der enorme Druck durch seine Kunden, die Lieferfehler kaum verzeihen und die Scheidung von seiner Frau brachten ihn auf den Gedanken, dass er vielleicht einen Neuanfang brauche. Heute ist er froh, dass er geblieben ist. „Mit der Corona-Pandemie wäre das für mich ein finanzielles Desaster geworden. Ich würde wahrscheinlich arbeitslos im Haus meiner Mutter hocken“, sagt Klenner.

In ein paar Jahren allerdings, glaubt er, kann er sich eine Rückkehr durchaus vorstellen. Irgendwo ein Haus im Grünen kaufen – sei es in Sangerhausen, Leipzig oder Freiburg – und es renovieren, das ist sein Traum. „Die Ruhe und die Natur vermisse ich schon.“ Die Immobilienanzeigen jedenfalls checkt er regelmäßig.



Der Artikel erschien zuerst in der Mitteldeutschen Zeitung und auf MZ.de.