Der Leipziger Forscher Martin Radenz nahm an der bisher größten Arktisexpedition teil. Der 29-Jährige berichtet über Zeichen des Klimawandels, die ewige Dunkelheit, drei Schichten Handschuhe und Eis-Fußball.
Von Janine Gürtler
An die alles verschlingende Dunkelheit kann Martin Radenz sich noch gut erinnern. Auf seinem Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz, dem nördlichsten Punkt der Erde, sah er fünf lange Wochen nichts als die Schwärze der Polarnacht. Das einzige Licht kommt vom Scheinwerfer, mit dem der Eisbrecher die Landschaft vor ihnen erhellt. Stürme schieben Eisschichten übereinander, die sich meterhoch vor dem Bug auftürmen. Immer wieder muss das Schiff vor- und zurücksetzen, um sich seinen Weg durch das Presseis zu rammen. Die Vibrationen spürt man im ganzen Schiff. „Das war schon eine unwirkliche Erfahrung.“
Radenz, 29, ist Doktorand am Leibniz Institut für Troposphärenforschung (Tropos) in Leipzig und war für knapp fünf Monate Teil der Mosaic-Expedition, der größten – und ambitioniertesten – Arktisexpedition der Geschichte. Hunderte Wissenschaftler aus 37 Nationen, darunter sieben Forscher aus Leipzig, ließen sich in wechselnden Crews über ein Jahr auf dem Forschungsschiff „Polarstern“ von einer Eisscholle in der Nähe des Nordpols einschließen, um die Welt rund um Eis und Wasser praktisch lückenlos zu vermessen. Das Ziel: die Ursachen und Folgen des Klimawandels in der Arktis besser zu verstehen.
Mosaic-Expedition am Nordpol: Die Arktis verschwindet
Die Arktis gilt als Frühwarnsystem für die Erderwärmung, alle Entwicklungen des Klimawandels passieren hier früher – und viel schneller. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Arktis etwa doppelt so stark wie der Rest der Erde erwärmt. Schon vor 2050 könnte das arktische Eis in vielen Sommern komplett verschwunden sein. Die Daten, die das internationale Forscherteam hier gesammelt hat, sollen neue Einblicke in das Zusammenspiel von Atmosphäre, Eis, Ozean, Tier- und Pflanzenwelt gewähren und so genauere Klimamodelle ermöglichen.
Radenz’ Fokus liegt dabei auf winzigen Schwebeteilchen in der Luft, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Der Atmosphärenforscher hat auf der Polarstern den Einfluss von Aerosolen auf Wolken über der Arktis gemessen. Seine Ergebnisse sollen helfen, Prognosen zum Klimawandel zu verfeinern. Aerosole sind winzige schwebende Staubteile und Tröpfchen, die weniger als fünf Mikrometer groß sind. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist etwa 100 Mikrometer dick.
Polarstern: Expedition der Superlative
Für den gebürtigen Bayern war es nicht die erste Expedition mit der Polarstern. Aber die erste dieser Größenordnung. Denn bisher fanden Arktis-Expeditionen aus logistischen Gründen nur im Sommer statt und dauerten oft nur wenige Wochen. „Das ist das erste Mal, dass ein Forschungsteam den arktischen Winter derart umfassend vermessen hat – und das über einen so langen Zeitraum“, sagt Radenz.
Fast 500 Menschen aus 20 Nationen und 80 Institutionen waren etappenweise an Bord, angeführt vom deutschen Alfred-Wegener-Institut (AWI). 70 Tonnen Ausrüstung wurden auf dem Eiscamp auf der Scholle ausgebracht. 5.000 Meter Stromkabel wurden verlegt, um die Messstationen auf dem Eis und die Laborräume auf dem Schiff zu betreiben. Und die Forscher selbst haben sich Monate auf die Expedition vorbereitet, samt Ausbildung zur Selbstrettung im Eis und „Eisbärentraining“. Ein Wahnsinnsvorhaben.
Rückblick: Mitte Januar stechen Radenz und seine Kollegen – darunter Franzosen, Russen, Norweger und Amerikaner – mit einem Versorgungseisbrecher vom norwegischen Tromsø in See. Ihr Ziel: die Polarstern, die festgefroren an einer Eisscholle etwa 200 Kilometer vor dem Nordpol durch das Eis driftet. Die Crew kommt Anfang März, den kältesten Wochen der Expedition, an. Eisige minus 42 Grad herrschen auf der Scholle, durch den starken Wind liegt die gefühlte Temperatur sogar bei minus 65 Grad. „Das habe ich so auch noch nicht erlebt“, sagt Radenz. Bei der Arbeit tragen die Forscher gleich drei Schichten Handschuhe, ohne sie würden ihre Hände bei diesen Temperaturen innerhalb von wenigen Minuten erfrieren.
Forschung in der Arktis: Dreckige Luft am Nordpol
Für seine Forschung arbeitet Radenz mit einem sogenannten Lidar, einem Laser, der Staubpartikel in bis zu 14 Kilometern Höhe messen kann. Das Ergebnis: Die Luft um den Nordpol im Winter ist stärker verschmutzt als bisher angenommen. „Wir haben erhebliche Rückstände von Waldbränden aus Sibirien und Nordamerika gefunden“, so Radenz. Das widerspricht der bisherigen Lehrmeinung, dass der Winter in der Arktis relativ sauber sei. „Die Arktis im Polarwinter ist eher wie ein großer Strudel, der Luftverschmutzung aus großen Teilen der Nordhemisphäre ansaugt“, so Radenz.
“Das Eis ist deutlich dünner als noch vor 20 Jahren.”
Und auch den Klimawandel selbst haben die Forscher deutlich sehen können. „Das Eis ist deutlich dünner als noch vor 20 Jahren“, sagt der Doktorand. „Dadurch war das Eis auch sehr dynamisch.“ Innerhalb von Stunden schieben sich Eisschollen zu gigantischen Presseisrücken zusammen, genauso schnell schmilzt oder friert das Meerwasser. „Man konnte dabei zuschauen, wie schnell sich die Landschaft verändert.“
Weil sich immer wieder gewaltige Risse und Rinnen mit offenem Wasser in der Scholle bilden, mussten die Teams nicht nur auf ihre eigene Sicherheit achten, sondern auch auf die ihrer Messgeräte. „Als unsere Scholle im Mai auseinandergebrochen ist, mussten wir große Teile des Forschungscamps umsetzen.“
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