Kindheit im Netz (Foto: Andreas Stedtler)

Kinder werden in die Netzwelt hineingeboren. Bei dem Versuch, sie zu schützen, hinken nicht nur Eltern und Schulen, sondern auch der Gesetzgeber hinterher. Warum Kompetenz wichtiger ist als Verbote. 

Von Janine Gürtler


Unser tägliches Smartphone gib’ uns heute. Wenn Josephine Scheller (Name v. d. Red. geändert) mit ihrer Familie spielt, starrt sie dabei auf einen bunten Bildschirm. „Ich habe vier Tablets“, sagt die Zwölfjährige, „eins von meiner Mama, zwei von meiner Oma und eins von meiner anderen Oma.“ Einen Alltag ohne Medien kann sie sich schwer vorstellen. „Mit meinem Handy schreibe ich mit meinen Freunden über WhatsApp und Facebook“, sagt sie. „Auf den anderen Geräten spiele ich nur.“ Der Nachsatz wirkt, als wolle sie sich verteidigen.

Was Josephine erzählt, ist bezeichnend für die heutige Generation. Noch bevor sie lesen oder schreiben können, bedienen Kleinkinder Tablets, als hätten sie nie etwas anderes getan. Spielwarenhersteller rüsten Babys mit elektronischem Spielzeug aus, Facebook will Kindern unter 13 Jahren eine Mitgliedschaft ermöglichen.

Kinder schon mit zehn Jahren „digital volljährig“

„Viele Kinder wachsen heute völlig selbstverständlich mit der digitalen Technik auf“, sagt Nadia Kutscher, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Vechta (Niedersachsen). Nach der im August dieses Jahres publizierten „Kids Verbraucher Analyse“ erreichen Kinder das, was die Marktforscher „digitale Volljährigkeit“ nennen, bereits mit zehn Jahren.

Laut der Studie nutzen 97 Prozent der Zehn- bis 13-Jährigen das Internet, mehr als die Hälfte von ihnen täglich. Forscher sind sich über die Auswirkungen digitaler Medien auf das Heranwachsen von Kindern uneins: Zu viel Medienkonsum gefährdet die Entwicklung, sagen die einen. Tablets und Co. ermöglichen besseres Lernen, meinen die anderen.

„Viele Kinder wachsen heute völlig selbstverständlich mit der digitalen Technik auf.“

Nadia Kutscher, Erziehungswissenschaftlerin

Hier ist Facebook Teil des Unterrichts

„Die meisten meiner Schüler wissen gar nicht, wie leicht Informationen auf Facebook oder WhatsApp in falsche Hände geraten können“, sagt Torsten Hinze. Der 51-Jährige unterrichtet das Fach Moderne Medien an der Sekundarschule „Heinrich Heine“ in Halle. Heute ist er Günther Jauch.

Mit grauem Strickpulli und silbernem Ring im Ohr spielt er für die Klasse 5b den Moderator der TV-Quizshow „Wer wird Millionär?“. Fragen wie „Was ist ein Avatar?“ oder „Was bedeutet Liken?“ sollen den Wissensstand der Zehn- bis Zwölfjährigen zu sozialen Medien testen. „Meine Mädels sind bei dem Thema oft viel fitter als die Jungs“, sagt Hinze.

In seiner Klasse sind vier Schüler auf Facebook, darunter auch Josephine. Angemeldet hat sie sich mit Hilfe ihrer Mutter, beim Alter hat sie geschummelt – „weil nicht jeder wissen sollte, dass ich noch ein Kind bin.“ Hinze weiß, dass Josephine und ihre Mitschüler noch gar nicht auf Facebook sein dürften. In dem Netzwerk beträgt das offizielle Mindestalter 13 Jahre; nach Facebook-Schätzungen liegen mehr als fünf Millionen der insgesamt eine Milliarde Nutzer unter dieser Altersgrenze.

Wenn man ihn fragen würde, sagt Hinze, gehen viele seiner Schüler zu früh auf Facebook. Verbieten könne er ihnen die Mitgliedschaft nicht. „Mit vielen Schülern bin ich auf Facebook befreundet. Dann kann ich in Notfällen wenigstens eingreifen“, sagt Hinze. Mit „Notfällen“ meint Hinze dumme Sprüche oder Beleidigungen, die sich seine Schüler manchmal an den Kopf – oder besser gesagt – an die Pinnwand werfen.

Kindheit im Netz: Der Jugendschutz ist löchrig

Wie gering der Schutz für Kinder im Netz ist, zeigt der Vergleich zur realen Welt. Das Jugendschutzgesetz verbietet Kindern das Rauchen und Trinken, sie dürfen nicht wählen oder Auto fahren, nicht in Clubs gehen, keine Verträge unterschreiben. Im Internet greift dieser Schutz wenig. Millionen Kinder weltweit sind auf Plattformen wie Facebook oder WhatsApp online, schauen Videos auf Youtube, zeigen sich Bilder auf Snapchat und Instagram. Alterskontrolle: Fehlanzeige.

Uwe Hasebrink vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg hält den Jugendschutz im Internet für sehr löchrig: „Für die meisten Kinder in Deutschland existiert derzeit im Netz keinerlei Schutz.“ Denn das entscheidende Instrument des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags, der Heranwachsende vor sogenannten „entwicklungsgefährdenden Medieninhalten“ schützen will, ist die Altersbegrenzung. „Das mag beim Kinobesuch oder in der Videothek funktionieren, im Internet aber schon nicht mehr“, kritisiert Hasebrink. Denn dort sind Inhalte zeit- und ortsunabhängig abrufbar.

„Für die meisten Kinder in Deutschland existiert derzeit im Netz keinerlei Schutz.“

Uwe Hasebrink, Medienforscher

Im Netz und bei mobilen Kommunikationsgeräten setzt der Gesetzgeber deshalb neben speziellen Filterprogrammen auch auf die freiwillige Selbstkontrolle von Medienanbietern.

Kritiker zweifeln an beiden Methoden. „Die Filterprogramme sind noch nicht ausgereift und werden von den meisten Eltern nicht genutzt“, sagt Hasebrink. Hinzu komme, dass bei weitem nicht alle inländischen Internetanbieter ihre Angebote mit Altersangaben kennzeichnen und damit die Voraussetzung dafür schaffen, dass die Filter wirksamer werden können. Bei Webseiten aus dem Ausland entfalle dieser Schutz völlig.

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