Unterricht im Armenviertel von Rio de Janeiro

Trotzdem, betont Berger, stehen die Favelas – anders als von außen wahrgenommen – nicht nur für Armut, Elend, und Gewalt. Hier tobt das Leben, immer und überall. Jugendliche trommeln Samba-Rhythmen auf alten Blechdosen, Mototaxis (Motorräder, die Passagiere mitnehmen) schlängeln sich rasend schnell durch die engen Gassen, die kaum zwei Meter breit sein, Kinder spielen Fußball auf der Straße. „Es ist eher wie eine Stadt in der Stadt, und auch hier gibt es unterschiedliche soziale Schichten.“

Im Complexo do Alemão, das als als eine der größten und
gefährlichsten Favelas Rios gilt, unterrichtet Anne-Kirstin Berger Englisch. (Foto: Berger)

Der Unterricht macht sie glücklich, weil sie etwas zurückgeben kann, sagt sie. Die teils extreme Armut der Menschen geht trotzdem nicht spurlos an ihr vorbei. Kann sie eine ganze Stunde über Essen abhalten, wenn in ihrem Klassenzimmer auch Kinder sitzen, die kaum etwas zu essen haben?

“Es gab auch Tage, an denen ich heulend im Bus saß.”

Anne-Kirstin Berger

„Es gab auch Tage, an denen ich heulend im Bus saß, weil ich kaum fassen kann, wie krass unterschiedlich unsere Lebensbedingungen sind.“ Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie unterrichtet sie ihre Schüler im Alter zwischen neun und neunzehn Jahren nur noch per Zoom. „Das funktioniert echt gut“, sagt Berger, „schließt aber auch einen Großteil aus.“ Denn nicht alle haben Internet zu Hause, geschweige denn einen Laptop oder ein Handy. 

Entzaubertes Land Brasilien

Nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich, auch die Polarisierung der Brasilianer holte die deutsche Auswanderin schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. „Mein Bild vom Land hat sich schon verändert.“ Seit Jahren werden die Gräben zwischen den Anhängern des Präsidenten Jair Bolsonaro und dessen Gegnern immer tiefer, die Polarisierung geht bis ins Private. Mit Lucas’ Verwandtschaft zum Beispiel könne sie sich super unterhalten, sagt sie, „bei manchen von ihnen lasse ich politische Themen aber lieber weg.“ 

Die Deutsche kann nicht nachvollziehen, wie Menschen auf überfüllten Krankenhausfluren an Corona sterben, die Fallzahlen immer weiter ansteigen – und die Beliebtheitswerte von Brasiliens Präsidenten Bolsonaro besser denn je sind. Bolsonaro spielt Corona seit Monaten als „kleine Grippe“ herunter, bezeichnet Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus als Hysterie“ und schiebt der Justiz und den Gouverneuren die Schuld für mehr als 179.000 Corona-Tote zu. „Ich verzweifle manchmal daran, dass Menschen für Ideologien so empfänglich sind“, sagt die junge Frau.

Trotz all dem Leid, sagt Anne-Kirstin Berger, hat die Corona-Pandemie für sie auch etwas Gutes. „Dadurch konnte ich für ein paar Monate mit Lucas zusammenwohnen.“ Denn obwohl sie seit über einem Jahr verheiratet sind, führen die beiden noch immer eine Fernbeziehung. Normalerweise pendelt die Bad Lauchstädterin jedes Wochenende mit dem Bus zwischen Rio und Belo Horizonte, sieben Stunden dauert die Fahrt. Seit dem Höhepunkt der Pandemie im Mai aber ist sie überwiegend in Belo Horizonte und arbeitet von zu Hause aus. 

Zur Weihnachtszeit in Rio kommt auch die Sehnsucht nach Hause

Trotz des Ausmaßes der Coronakrise in Brasilien, den Impuls nach Deutschland zurückzugehen hatte sie nie. Für die Zukunft ausschließen will sie eine Rückkehr jedoch nicht. „Ich habe mich nie bewusst gegen Sachsen-Anhalt entschieden, das hat sich einfach so ergeben.“ Besonders zu dieser Jahreszeit spürt die Auswanderin auch, dass sie ihre Heimat vermisst: Der Schnee, die Beschaulichkeit, der Christkindlmarkt, das Plätzchenbacken mit ihren Großeltern. „Weihnachten ist eine Zeit, in der man auf einmal wieder weiß, wo man herkommt.“ 

Heiligabend verbringt sie nun mit Lucas und dessen Familie. „Wir werden die Palme schmücken und draußen bei 30 Grad im Garten sitzen“, sagt die Auswanderin. Und Lucas’ Familie wiederum wird dann auch eine ganz besondere deutsche Tradition kennenlernen: selbstgebackenen Stollen. „Der geht hier bei der Hitze besonders gut.“


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