Anja Lewis in Perth

Nur sechs Wochen wollte Anja Lewis in Australien bleiben, inzwischen sind es 16 Jahre. Die Dessauerin hat sich in das Land und einen Australier verliebt – und sich beruflich immer wieder neu erfunden.

Von Janine Gürtler

Wenn Anja Lewis Deutsch spricht, klingt es manchmal so, als ob sie ihre Muttersprache vergessen hätte. Immer wieder rutscht sie ins Englische, einfach, weil ihr die Redewendungen schneller einfallen. Die Dessauerin sagt „Thongs“ statt Flip Flops, „Honeymoon“ statt „Hochzeitsreise“ und „Yot“ statt „Yacht“, alles mit schönstem australischen Einschlag. Kein Wunder: Seit 16 Jahren – samt zwei Jahren Zwischenstopp in der Karibik – lebt die 44-Jährige in Australien. Geplant war das nicht. „Ich bin quasi durch Zufall ausgewandert“, sagt Lewis. Eigentlich wollte sie nur für sechs Wochen nach Australien gehen und sich dort einen langgehegten Traum erfüllen. Eine Tauchausbildung zum Dive Master in Exmouth, dem westlichsten Zipfel von „Down Under“. Im April 2005 kurz vor Ende ihres Maschinenbaustudiums nimmt sie sich spontan ein Urlaubssemester, zwei Wochen später sitzt sie im Flieger. „Ich habe damals nicht mal meine Möbel verkauft. Ich dachte ja, ich komme zurück.“ 

Dank dieser Entscheidung hat sie mittlerweile so einiges von der Welt gesehen. Sie hat in Exmouth ihren Dive Master gemacht, in Brisbane Segeln gelernt, in der Karibik auf Privatyachten als Skipper geschuftet, einen Roadtrip quer durch die USA gemacht, sich als Weinkennerin einen Namen gemacht und vor kurzem in Perth ein Wellness-Studio eröffnet. Wenn jemand offen ist für Abenteuer, dann ist es die 44-Jährige.

Ausgewandert nach Australien: Aus Wochen werden Monate

Dass es Lewis nie zurück nach Deutschland gezogen hat, liegt wohl auch daran, dass sie Sonny hier kennengelernt hat. Sonny stammt aus Perth und arbeitet in demselben Tauchladen wie Lewis im Ningaloo Reef. Während er als „Deckie“ – also als Deckhand – dem Kapitän unter die Arme greift und sich um die Gäste kümmert, entführt sie Gäste auf Tauchtouren mit Walhaien. Liebe auf den ersten Blick war es nicht, sagt sie heute. „Das erste Foto, das wir zusammen gemacht haben, habe ich noch meinem damaligen Freund und meiner Familie geschickt“, erzählt Lewis. „Da bestand also null Interesse.“ Als er sie fragte, ob sie mit ihm durch Australien reisen wolle, überlegte sie trotzdem nicht lang. 

In Australien hat die Dessauerin auch ihre große Liebe Sonny gefunden. (Foto: Lewis)

Fünf Monate sind sie mit Sonnys Wohnwagen unterwegs. Sie wandern durch die tiefen Felsschluchten im Karijini Nationalpark, erkunden die menschenleeren Sandstrände entlang der Westküste, leben für drei Monate in Darwin im Norden, verbringen die Silvesternacht im Uluru-Nationalpark und landen schließlich in Brisbane an der Ostküste. „Wir haben den halben Kontinent abgeklappert.“ Auf der Reise verliebt sich Lewis in das Lebensgefühl und die Freiheit Australiens – und auch in Sonny. „Ich war immer sehr selbstständig und habe meinen Raum gebraucht, mit Sonny aber war das von Anfang anders“, blick die Deutsche zurück. „Wir waren 24/7 zusammen und ich habe mich trotzdem unglaublich frei gefühlt“, sagt Lewis. Nach Deutschland zurückzukehren, kommt für sie spätestens jetzt nicht mehr in Frage.

Lewis bringt ihr Studium zu Ende, in Brisbane arbeitet sie als Produktionsingenieurin und klettert die Karriereleiter hinauf, am Ende ist sie Teamleiterin von über 130 Mitarbeitern. Es ist eine männerdominierte Welt, Lewis ist die einzige Frau im Management. „Da rennt man schon auch manchmal gegen sprichwörtliche Wände und kämpft mit einer Menge Vorurteilen.“ Mittlerweile sind die beiden verheiratet und haben ein Haus gekauft. Doch wieder will es der Zufall, dass die Dessauerin ihr nächstes Abenteuer startet. 

Von Perth auf die britischen Jungferninseln: Traumhafter Knochenjob in der Karibik

Bei ihrer Hochzeitsreise auf den britischen Jungferninseln lernen Anja und Sonny ein US-amerikanisches Paar kennen, das Segeltörns mit Privatyachten anbietet und sie fragt, ob sie Teil ihrer Chartercrew werden wollen. „Für uns war das immer ein Traum: ein Haus kaufen, renovieren und dann wieder verkaufen, um die Welt zu umsegeln“, sagt Lewis. Gesagt getan: Ein Jahr lang renovieren sie ihr Haus, im August 2011 packen sie nur das Nötigste zusammen und verkaufen oder verschenken den Rest. Ihr gesamtes Leben passt in gerade mal sechs Kisten. In einem Kurs lernt Lewis, wie man als Stewardess auf einer Yacht serviert, bügelt, das Bett bezieht. Während Sonny als Kapitän steuert, ist Lewis Stewardess und Küchenchefin in einem. 

Bis zu 16 Stunden am Tag war Anja Lewis für ihren Job als Stewardess auf den Beinen. (Foto: Lewis)

Die Arbeit auf dem 60-Footer-Katamaran ist Paradies und Hölle zugleich. Zehn Monate im Jahr schippern sie zwischen den britischen und amerikanischen Virgin Islands hin und her, sehen jeden Tag eine andere traumhafte Insel, schwimmen im Ozean. „Wir haben unseren Traum gelebt“, schwärmt die braungebrannte Blondine mit den Sommersprossen im Gesicht. Gleichzeitig schuften die beiden wochenlang bis zu 16 Stunden am Tag, Wochenenden gibt es nicht. Sobald die Gäste von Bord gehen, muss die Yacht für die nächste Gruppe am Folgetag fertig gemacht werden. „Das war schon heftig, wenn man 36 Tage durcharbeitet“, erinnert sich Lewis. Nachts schlafen sie in einem schmalen Bett in einer winzigen Kabine, die gerade so groß ist, das zwei Leute aufrecht in ihr stehen können. Privatsphäre Fehlanzeige. „Streiten kann man sich da nicht“, sagt die Abenteurerin, „es ist ja immer jemand da.“

“Das war schon heftig, wenn man 36 Tage durcharbeitet.”

Anja Lewis

Auswanderer-Abenteuer in Australien: „Ich musste quasi wieder von Null anfangen.“

Ein Job für die Ewigkeit ist das deshalb nicht. „Wir haben sechs Boote angeboten bekommen, alle noch größer, schöner, luxuriöser. Aber nach zweieinhalb Jahren wussten wir, dass wir lieber nochmal reisen und die Welt sehen wollten.“ Also reisen Lewis und ihr Mann acht Monate lang quer durch Europa und die USA, bevor es wieder zurück nach Australien geht. Diesmal nach Perth, Sonnys Heimatstadt. Während der 40-Jährige in der Firma seines Vaters anfängt, ist der Neustart für die Deutsche weniger einfach. „Ich musste quasi wieder von Null anfangen.“ Vier Monate lang schreibt sie Bewerbungen, erfolglos. Und Montage-Jobs, die es in Perth zu Hauf gibt (bei denen sie für drei Wochen in einer abgelegenen Mine arbeiten würde, um dann eine Woche frei zu haben), sind keine Option für sie. „Die Lebensqualität in Perth und dauerhaft mit Sonny zusammen zu sein, war mir wichtiger als das Geld.“ 

Also orientiert sich die Dessauerin neu. Weil sie durch ihren Job in der Karibik auch die Welt des Weins und Champagners kennengelernt hatte, beschließt sie, alles über den Traubensaft zu lernen. Auf Weingütern im Swan Valley hilft sie bei der Weinlese, lernt, wie man Wein produziert und vertreibt.

Arbeiten in Australien: Corona-Pandemie brachte auch Anja in Bedrängnis

Seit 2016 hat sie ihre eigene kleine Weinschule und arbeitet als Weinberaterin für Restaurants. In ihren Kursen bringt sie Teilnehmern die Besonderheiten von Weinen aus aller Welt bei, und stellt mit Gourmetköchen spezielle Wein-Dinner zusammen. „Wenn man ein Gericht und den dazu perfekt passenden Wein in Harmonie bringt und so ein besonderes Erlebnis kreieren kann“, sagt die Dessauerin, „da geht mir total das Herz auf.“

Liegen momentan auf Eis: Anjas Weinkurse. (Foto: Lewis)

Lewis ist wichtig, ihren Teilnehmern den Unterschied zwischen „Drinking“ und „Tasting“, also zwischen dem Weintrinken und der Verkostung, zu vermitteln. „Jeder kann trinken“, sagt sie, „aber wie ist es, wenn man ihn wirklich schmeckt? Woran erinnert mich das Aroma? Welche Geschichte steckt hinter dem Wein?“ Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 auch Australien einholte, war damit aber vorerst Schluss. „Fünf Monate lang lagen all meine Weinkurse und -touren komplett auf Eis.“ Für Lewis kein Grund, aufzugeben. Um sich ein zweites Standbein aufzubauen, haben sie und ihr Mann ein Wellness-Studio eröffnet. Zusammen bieten sie hier Reiki-Behandlungen und arbeiten mit ätherischen Ölen. Ein Abenteuer in Zeiten der Pandemie, aber eines, das sich für beide gelohnt hat.

Leben in Australien: Größere Freiheit, mehr Geld zum Leben

Vermisst sie also so rein gar nichts an ihrer Heimat? Abgesehen von ihrer Familie und Freunden nicht viel, meint die Auswanderin. „In Deutschland muss alles durchgeplant sein. Es ist manchmal schwer, jemanden auf der Straße lächeln zu sehen.“ Die Australier dagegen, meint Lewis, leben vielmehr in den Tag hinein, sind unbeschwerter, genießen das Leben. „We just love what we do“, ergänzt sie auf Englisch – „Wir lieben das Leben“. Nach Sachsen-Anhalt zurückzugehen, kommt deshalb für sie nicht in Frage. „Ich habe viele schöne Erinnerungen an Dessau, aber dort zu leben, kann ich mir nicht vorstellen.“ Und auch wenn vieles in Perth deutlich teurer ist als in Dessau (die Mieten kosten hier locker mehrere tausend australische Dollar), hat sie auch mehr Geld zum Leben übrig. 

“Ich war anfangs total geschockt, dass die Leute so wenig über Weltgeschichte oder Politik wissen.”

Anja Lewis

An andere australische Eigenheiten wiederum musste auch sie sich erst gewöhnen. Zum Beispiel, dass die Australier eher wenig davon mitbekommen, was im Rest der Welt passiert. „Ich war anfangs total geschockt, dass die Leute so wenig über Weltgeschichte oder Politik wissen. Es interessiert hier einfach niemanden.“ Auch über die teils derben, rassistischen Witze kann die Deutsche anfangs wenig lachen. Ihrer Liebe zu ihrer Wahlheimat tut das aber keinen Abbruch. „Ich habe gemerkt, dass ich in Australien viel freier bin und genau das machen kann, was ich will. Ich bin hier zu Hause.“


Der Artikel erschien zuerst in der Mitteldeutschen Zeitung.