New York City: Eine Stadt, viele Krisen
Die Probleme der USA sind vor allem hier in New York spürbar. Corona, Rezession, Rassismus, Polizeigewalt – in der Millionenstadt ballen sich sämtliche Auswirkungen der Trump-Politik. Das zeigt sich vor allem im Herzen der Stadt. Midtown habe ich noch als protziges Machtzentrum kennen gelernt, heute ist es schwer angeschlagen. Die Broadway-Bühnen und Carnegie Hall sind dicht. Viele Bürotürme stehen so gut wie leer. Zahlreiche Geschäfte haben ihre Schaufenster vernagelt oder sie sind ausgezogen: „Dauerhaft geschlossen!“, „Shop zu vermieten“ – überall in New York, über Kilometer den Broadway entlang, sehe ich solche Schilder.
Mehr als 7.000 von New York City’s Unternehmen haben seit dem 1. März aufgegeben, ist im Online-Branchenbuch Yelp zu lesen. Und die Zukunft sieht nicht rosig aus. Etwa ein Drittel der 240.000 Kleinunternehmen der Stadt wird wohl nie wieder eröffnen, mehr als eine halbe Million Menschen haben allein in diesem Sektor bereits ihren Job verloren, sagen Experten. Trumps amerikanischer Turbo-Kapitalismus, er hat besonders in New York einen großen Knacks bekommen.
Viele New Yorker sehen ihren Präsidenten als den Hauptverantwortlichen. Als er Corona noch verharmloste, kehrten viele ihrer Stadt den Rücken. Etwa 420.000 Einwohner verließen den Big Apple allein zwischen dem ersten März und ersten Mai. Auch ich wäre zwischendurch am liebsten gegangen, um für ein paar Monate raus aus der Enge meiner 60-Quadratmeter-Wohnung zu kommen und bei meiner Familie zu sein. Doch dank Trumps „Travel ban“ hätte ich trotz Visum nicht wieder einreisen können.
Sind die USA am Ende?
Die große Frage ist: Rappeln sich die Vereinigten Staaten zusammen – und mit ihnen auch New York wieder auf? Es kommt darauf an, wen man fragt. Geht es nach dem Schriftsteller George Packer, lebe ich in einem gescheiterten Staat. Inkompetenz an der Macht, Verschwörungstheorien, Wunderheilmittel: Corona habe, so schrieb Packer in einem Essay im „The Atlantic“, den Amerikanern gezeigt, dass sie einem korrupten Regime ausgeliefert sind.
Doch am Ende sind die Vereinigten Staaten in meinen Augen trotzdem nicht. Das sehe ich vor allem in New York, wo das Leben, trotz allem, so langsam wieder aufblüht. „Hoping for the best, prepared for the worst“ – Das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein: So kann man die Stimmung hier wohl am besten beschreiben. Mit dem sturen Willen, aus jeder Situation das Beste zu machen, eroberten wir uns im Sommer unsere Stadt zurück, allen voran die Restaurants, Bars und Parks. Am Times Square sehe ich schon wieder die ersten Touristen und Taxis, und mit ihnen sind auch die Rikschafahrer, Doppeldeckerbusse und verkleidete Comic- und helden wie Batman und Spiderman zurückgekehrt.
Und es gab gerade auch in Zeiten von Corona viele Momente, die zeigen, dass Amerikaner in Krisen zusammenhalten. Über Monate gingen Freiwillige für Risikogruppen einkaufen. Wochenlang haben New Yorker für den Einsatz des Medizinpersonals geklatscht, haben sich Wildfremde in Facebook-Gruppen organisiert, um sich gegenseitig zu helfen und Mut zuzusprechen. Egal welchem politischen Lager sie angehören. Die Amerikaner können sich schneller neu erfinden als jede andere Nation. Genau deshalb habe ich wie viele New Yorker die Hoffnung, dass Trump am 3. November abgewählt wird. Sonst sieht es düster aus.
Der Artikel erschien zuerst auf MZ.de