In Gedenken an die Opfer von Halle.

Ein Attentäter mordet in Halle aus Judenhass – und filmt die abscheulichen Taten auch noch. Was wir daraus lernen müssen.

Janine Gürtler, New York, Meinung

Es ist noch früh am Morgen in New York, als ich die ersten Nachrichten von Schüssen auf meinem Handy sehe. Es soll eine Schießerei im Paulusviertel in Halle gegeben haben, die Polizei riegelt das Gelände ab. Noch sind die Nachrichten im Konjunktiv geschrieben, meine ehemaligen Kollegen von der Mitteldeutschen Zeitung schreiben in einer gemeinsamen Whatsapp-Gruppe im Minutentakt, wie der Stand der Dinge ist, was die Polizei bisher bestätigt hat und was noch nicht. In den darauffolgenden Stunden überschlagen sich die Tickernachrichten der Medien: Der Schütze soll Stephan B. sein, ein 27-Jähriger aus Eisleben, sein Ziel war die jüdische Synagoge von Halle.

Ausgerüstet mit einem ganzen Arsenal von Waffen, Munition und selbst gebautem Sprengstoff wollte er offenbar in der Synagoge wahllos Menschen töten. Es gelingt ihm nicht. Am Ende dieses Tages sind zwei Menschen tot. Sie sind außerhalb der Synagoge – vor dem jüdischen Friedhof und in einem nahegelegenen Dönerimbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße – erschossen worden. Zwei weitere Opfer wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus gebracht. Dass es nicht mehr Todesopfer gab, ist offenbar nur dem Umstand zu verdanken, dass die Waffe von B. Ladehemmungen hatte. So wie der Mörder von Christchurch filmte auch der Attentäter von Halle seine Taten. Es ging ihm wohl darum, maximalen Terror zu verbreiten.

Christchurch, Berlin, Paris. Jedes Mal war der Terror nah, aber immer noch ein Stück entfernt. So hat es sich für mich immer angefühlt. Jetzt hat es Halle getroffen, meine Heimatstadt, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht habe. Auch wenn ich mittlerweile über 6.000 Kilometer weg von Deutschland lebe, fühlt sich der Terror, der Schrecken unglaublich nah an.

Soziale Medien als Werkzeuge der Terroristen

Was den Terror so nahe bringt, sind – wie schon bei den Anschlägen in Paris und Christchurch – vor allem die sozialen Medien. Ein junger Mann, der sich zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Dönerimbiss aufhielt, erklärt kurz danach einer Fernsehreporterin in einem Video auf Facebook, wie er um sein Leben rannte, sich in einer Toilette verschanzte. Wie er seiner Familie schrieb, nicht sicher, ob er dort lebend wieder rauskommen würde.

Er wirkt trotz des gerade Erlebten ruhig und beherrscht, betont, als er nach dem Aussehen des Täters gefragt wird, dass er zwar glaube, der Schütze habe mitteleuropäisch ausgesehen, aber er nicht sicher sei und „keine Falschinformationen verbreiten“ wolle. Dass aber genau das immer wieder passiert, zeigt auch dieser Anschlag.

In privaten Watsapp-Gruppen, auf Facebook und auf Twitter verschicken Nutzer die neuesten Gerüchte. Auch in meiner Freundesgruppe werfen wir uns Informationsfetzen zu, bei denen wir nicht wissen, wie hoch der Wahrheitsgehalt ist. Mal ist von einer Geiselnahme mit 70 Personen im 24-Stunden-Edeka die Rede, dann davon, dass der Täter mit einem Taxi durch Leipzig rast und weiter um sich schießt. Die Polizei bittet die Menschen auf Twitter, keine Gerüchte oder Handyvideos von dem mutmaßlichen Täter in den sozialen Netzwerken zu verbreiten, sondern sie stattdessen an das Bundeskriminalamt zu schicken. Es ist nicht der erste Hinweis dieser Art nach einem Attentat. Und es wird nicht der letzte sein.

Die (sozialen) Medien sind schnell, wenn es darum geht, Schreckensmomente wie diese minutiös zu dokumentieren. Am späten Nachmittag berichten mehrere Nachrichtenseiten, dass der Schütze seine Taten mit einer Helmkamera aufgezeichnet hat, das Video soll auch live im Netz gestreamt worden sein. „Die Zeit“ berichtet detailliert, wie der Täter mordet. Wer den Artikel liest, braucht starke Nerven. Nachrichtenseiten verbreiten ein Amateuervideo, in dem der Schütze bei einer Schießerei mit der Polizei zu sehen ist. Nur Stunden nach dem Attentat lässt sich bereits ein Wikipedia-Artikel im Netz finden. Und es scheint immer so weiter zu gehen.

Weil wir Anteil nehmen, auf dem Laufenden sein wollen, hecheln Medien und Leser gleichermaßen jedem Ticker-Update hinterher. Ich bin da keine Ausnahme. Weder als Journalistin noch als Privatmensch. Doch dieser Kreislauf ist Fluch und Segen zugleich. Denn wir alle werden damit (freiwillig oder unfreiwillig) zu Helfern des Terrors. Weil wir die Angst, die Terroristen streuen wollen, weiter verbreiten.

Terroranschlag in Halle: Was wir daraus lernen müssen

Es ist absolut krank, was heute in Halle passiert ist. Und trotzdem gibt es Hoffnung. Dann nämlich, wenn nach dem Schrecken dieses Tages Hunderte Hallenser am selben Abend den Todesopfern auf dem zentralen Marktplatz gedenken. Sie zeigen in diesen dunklen Stunden, dass wir uns von Hass und Gewalt nicht spalten lassen, dass wir zusammenstehen.

Der 9. Oktober 2019 wird ein Tag sein, den die Stadt Halle und vor allem die Angehörigen der Opfer und die Verletzten sicher noch lange verarbeiten müssen. Es ist ein Tag, der als einer der schwärzesten in der Geschichte meiner Heimatstadt eingehen wird. Aber es ist hoffentlich dieses Gefühl des Zusammenhalts, der gemeinsamen Trauer, das nach so einem Tag bleibt. Auch für die jüdische Gemeinde in Halle, die das Attentat ausgerechnet an Jom Kippur, ihrem höchsten Feiertag getroffen hat.

In den folgenden Tagen und Wochen werden Halle und ganz Deutschland die Folgen der Tat und die Aufklärung der Hintergründe beschäftigen. Es wird um Fragen gehen, die immer wieder nach Terroranschlägen aufkommen: Wächst der Terror in Deutschland? In Europa? Wie sicher dürfen wir uns noch fühlen?

Aber dabei darf es nicht bleiben.

Wir müssen die Debatte um den wachsenen Juden- und Ausländerhass in Deutschland mit noch mehr Nachdruck führen. Wir müssen Aufklärung leisten, in Schulen, Unis, im Büro, auf Facebook. Wir müssen einschreiten, wenn abfällige Kommentare über jemanden mit anderem Glauben oder kulturellem Hintergrund fallen. Wir müssen den Mund aufmachen – gegen dumpfe Parolen, Antisemitismus, Hass und Rassismus. Und wir müssen endlich aufhören, Videos oder Fotos von Anschlägen zu teilen. Da sind die sozialen Netzwerke und Medien genauso in der Verantwortung wie wir selbst.

Damit nach Tagen wie diesen mehr bleibt als der Schrecken und die Angst, den Terroristen wie der Schütze von Halle verbreiten wollen.