Frei sein, mobil sein, leben, wie man will und dabei doch arbeiten, nur eben wann man will – für viele ein Traum, für ein Paar aus Hamburg jedoch Realität.


By Janine Gürtler

Wann Maren und Matthias Wagener zuletzt in einem Büro gearbeitet haben, daran können sie sich gar nicht mehr genau erinnern. Fast das ganze Jahr über verbringen sie auf hoher See – an Traumzielen, wo andere Urlaub machen. Das Paar arbeitet dennoch: vom eigenen Segelboot aus. Was für viele wie ein unerreichbarer Traum klingt, haben die gebürtige Dresdnerin und der Bremer dank viel Disziplin und vor allem einer ungewöhnlichen Unternehmensphilosophie geschafft: Die beiden führen die Digitalagentur „Vast Forward“ und arbeiten nicht nur selbst von wo auch immer sie wollen, sondern ermöglichen das auch ihren sechs festen Projektmanagerinnen und über 30 freien Entwicklern. Die gesamte Kommunikation läuft per E-Mail, Skype und Telefon.

Maren und Matthias Wagener können arbeiten, von wo auch immer sie wollen. (Foto: Dennis Williamson)

In Deutschland ist die Zahl der von zu Hause aus Arbeitenden rückläufig

„Remote Work“ oder „Home Office“ nennt sich der Trend, der vor allem in den USA wächst, in Deutschland dagegen bislang kaum Anklang zu finden scheint. Im Gegenteil: Einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge ist die Zahl derer, die von zu Hause aus arbeiten, rückläufig. Und zwar ausgerechnet in den Bereichen, die sich dafür eignen. Weil Chefs häufig Nein sagen.

“Wir leben unseren Traum.”

Maren Wagener

„Wir leben unseren Traum“, sagt Maren Wagener. Auch sie und ihr Mann Matthias haben früher im Büro gearbeitet, segelten nur in der Freizeit auf der Alster. Bis die 40-Jährige ihren Mann 2012 überzeugte, „umzuziehen“. Von der Wohnung in Altona auf ein Segelboot. Seitdem sind die beiden ständig auf Reisen, haben erst die Ostsee, später den Atlantik und das Mittelmeer besegelt.

Leben auf engstem Raum

Das klingt nach einer locker-flockigen Entscheidung, für ihr neues Leben haben sie aber auch einiges aufgegeben: die Wohnung, das Auto, Möbel, Klamotten. Alles, was sie zum Leben brauchen, befindet sich auf ihrem Boot. Der Rest ist auf elf Quadratmetern in Hamburg eingelagert. „Man lernt, sich zu reduzieren“, sagt Maren Wagener. „Wenn man ein neues Paar Schuhe kauft, muss dafür ein anderes Paar weg“. Kurz vor der großen Fahrt ins Blaue gab sich das Paar das Ja-Wort, auf der Hochzeitsliste stand nur das, was sie zum Segeln brauchen: Funkgerät, Hotelteller – die gehen seltener kaputt -, rostfreies Besteck.

Aber wie hält man das aus, wenn man nicht nur zusammen lebt, sondern auch immer arbeitet – und das 24 Stunden auf engstem Raum? „Es klappt hervorragend“, lacht Maren Wagener. „Wir nehmen mehr Rücksicht, sind auch für vermeintliche Kleinigkeiten dankbar.“ Trotz der Enge, da sind sich beide sicher, ist das Leben an Bord die beste Entscheidung, die sie hätten treffen können.

Doch auch im Paradies läuft nicht immer alles glatt. In Korsika war das Paar während eines Sturms eine Woche lang auf dem Boot gefangen. Der Mistral wehte so stark, dass das Boot wie eine hilflose Boje im Wasser hin- und her wankte. „Das ging unglaublich auf den Körper“, erinnert sich Maren Wagener. Auch wegen Erfahrungen wie dieser haben die beiden immer einen „Plan B“ im Ärmel, planen nicht länger als sein halbes Jahr im Voraus.

Alles, was sie zum Arbeiten braucht, ist ein Laptop und W-Lan. Maren und Matthias Wagener führen ihre Agentur vom Segelboot aus. (Foto: Vast Forward)

„Viele Unternehmen vertrauen ihren Mitarbeitern zu wenig“

Brooklyn, ein sonniger Dienstag Mitte März. Es ist einer der ersten warmen Frühlingstage in New York. Maren und Matthias Wagener sitzen im Restaurant des Hotels, in dem sie für ein paar Tage abgestiegen sind. Ihr schwimmendes Büro ankert gerade in Sizilien, für geschäftliche Termine in Texas und New York sind die beiden ausnahmsweise geflogen. Ihre Agentur entwickelt digitale Kampagnen, Apps und Websites für Agenturen und Startups, denen die Ressourcen im eigenen Haus fehlen.

„Wir sind oft eine Art Feuerwehr“, bringt es Matthias Wagener auf den Punkt. Ihre Kunden verteilen sich über Deutschland und die Schweiz. Noch bevor wir ins Gespräch kommen, entschuldigt sich Maren Wagener. „Ich muss noch schnell eine Mail beantworten.“ Den Laptop hat sie gleich mitgebracht. Die Arbeit lässt die beiden nie ganz in Ruhe.

Arbeitet es sich in „remote“ – zu Deutsch so viel wie „Entfernung“ – also zwar freier, am Ende aber eben auch mehr? „Bei uns hört die Arbeit nie ganz auf“, gibt Matthias Wagener zu. Auch beim Abendessen tüfteln die beiden an neuen Ideen.

Delfine bei der Konferenz

Abschalten sei trotzdem wichtig: Die Weltenbummler klappen den Laptop um vier Uhr nachmittags zu, auch und vor allem, weil sie auf ihr Team bauen können. „Viele Unternehmen vertrauen ihren Mitarbeitern zu wenig“, sagt Maren Wagener. Und das hat ihrer Meinung nach vor allem etwas mit der Angst vieler Chefetagen zu tun, Macht abzugeben. „Es geht nicht um Kontrolle, sondern um Vertrauen“, betont Matthias Wagener. Und darum, Aufgaben und deren Lösungen wirklich den Mitarbeitern zu überlassen.

“Es geht nicht um Kontrolle, sondern um Vertrauen.”

Matthias Wagener

Belohnung für dieses Vertrauen ist eine Freiheit im Job, die wohl nur die wenigsten so intensiv erleben wie Maren und Matthias Wagener. So etwa in der Nacht, in der sie an der italienischen Insel Stromboli vorbeisegelten und der gleichnamige Vulkan Feuer spuckte. Und wer kann schon Delfine beobachten, wenn er in einer Telefonkonferenz sitzt? „Das Inspirierende sind vor allem die Menschen, die wir treffen, die Kulturen“, sagt Matthias Wagener. Nächstes Jahr wollen die beiden über den Atlantik in die USA segeln, irgendwann vielleicht auch den Panama-Kanal durchqueren. Hauptsache der Sonne entgegen.

Heimarbeit: Deutschland hinkt hinterher

Wer in Deutschland von zu Hause aus arbeiten will, hat es im Vergleich zu den Bürgerinnen und Bürgern anderer EU-Staaten eher schwer. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschafts-forschung hinkt die Bundesrepublik beim Anteil der Personen mit „Home Office“ deutlich anderen Nationen wie Frankreich, Groß-britannien oder den skandinavischen Ländern hinterher.

Nur zwölf Prozent aller Angestellten hierzulande arbeiten überwiegend oder gelegentlich von zu Hause aus, obwohl dies schon bei 40 Prozent der Arbeits-plätze theoretisch möglich wäre, heißt es. In den meisten Fällen scheitert der Wunsch nach Heimarbeit an den Arbeitgebern.

Dabei haben Studien bereits bewiesen: Heimarbeiter sind häufig motivierter, sammeln weniger Krankheitstage. Sie kommen aber oft auch auf überdurch-schnittlich lange Arbeitszeiten und leisten nicht selten unbezahlte Überstunden. (jgü)


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