Schwerkranke Lilly aus Halle bekommt Cannabis

Wenn der Anfall kommt, verkrampft sich Lillys ganzer Körper. Unkontrolliert wirft das kleine Mädchen die Arme und Beine von sich, ihr Kopf biegt sich nach hinten – manchmal fast bis zum Po. Kein Laut kommt dabei von ihren Lippen, schreien kann sie nicht. „Sie ist dann steif wie ein Surfbrett“, sagt ihr Vater Christian Damm.

Die fünfjährige Lilly ist schwerstbehindert. Epilepsie und spastische Anfälle bestimmen ihr Leben. Vor wenigen Wochen hat der Bundestag Cannabis auf Rezept freigegeben. Ärzte können damit Schwerkranken künftig Cannabis verschreiben. Tumorpatienten zum Beispiel, die durch Chemotherapie unter Übelkeit und Erbrechen leiden. Oder Patienten wie Lilly, die unter den Anfällen, die mit ihrer schweren Behinderung einhergehen, stark leidet. „Cannabis ist kein Wundermittel“, betont Steffi Patzer vom Elisabeth-Krankenhaus in Halle. „Aber es bringt Lilly ein Stück Lebensqualität zurück.“

Schwerkranke Lilly aus Halle leidet unter Hirnschwund

Die Kinderneurologin behandelt Lilly seit knapp drei Jahren mit Cannabis. Dabei begann Lillys Leidensgeschichte schon viel früher. Als gesundes Kind auf die Welt gekommen, ändert sich alles mit einem epileptischen Anfall in ihrer zweiten Lebenswoche. Danach kommen die Anfälle regelmäßig, bis zu zehn Mal am Tag. Als Lilly ein halbes Jahr alt ist, hört einer der Anfälle plötzlich nicht mehr auf. Mediziner sprechen vom Status epilepticus, Lilly schwebt in Lebensgefahr. Drei Wochen liegt sie im künstlichen Koma. „Keiner wusste, was sie wirklich hat“, sagt Stefan Damm.

„Keiner wusste, was sie wirklich hat.“

Stefan Damm, Lillys Vater

Was folgt, sind unzählige Untersuchungen bei verschiedenen Ärzten. Die Diagnose: Lilly leidet unter einer äußerst seltenen Form der Leukodystrophie, dem fortschreitenden Verlust von Hirngewebe. Die Anfälle und Krämpfe, die ihren kleinen Körper quälen, sind eine Auswirkung ihrer Krankheit. „Lilly hat keine Chance auf Entwicklung“, sagt Steffi Patzer. „Sie wird nie sprechen, laufen oder ohne Hilfe essen können.“ Daran wird auch Cannabis nichts ändern können. „Aber ohne die Behandlung wäre Lilly in keinem lebenswerten Zustand“, so Patzer.

Cannabis als Medikament lang umstritten

In der Politik war die rezeptfreie Cannabis-Freigabe war lange umstritten. Zwar belegen Einzelfall- Studien schon lange, dass Wirkstoffe der Droge die Symptome verschiedener schwerer Krankheiten lindern können. Aber es mangelt an hochwertigen Untersuchungen zu Cannabis mit größeren Patientenzahlen und guter Methodik. Der Bund tat sich schwer damit, die Droge offiziell als Medikament anzuerkennen.

Hemp plant
Cannabis als Medikament gilt als umstritten. Photo: 7raysmarketing auf Pixabay


Hintergrund: Cannabis in der Medizin


Die medizinische Wirkung von Cannabis ist noch immer umstritten. Die Pflanze kann Beschwerden lindern, ein Heil- oder gar Wundermittel ist das Rauschkraut aber nicht.


Therapeutische Effekte fanden Wissenschaftler vor allem bei Erbrechen und Übelkeit infolge von Chemotherapie, bei chronischen Schmerzen und bei Patienten mit Multipler Sklerose, die unter unwillkürlichen Muskelverkrampfungen, leiden.


Der Anbau von Cannabis zu medizinischen Zwecken soll staatlich geregelt werden. Zuständig dafür ist eine Agentur beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Sie soll sicherstellen, dass in standardisierter Qualität angebaut wird. Die Agentur soll den Cannabis dann kaufen und an Hersteller und Apotheken abgeben. Bis dahin soll auf Importe zurückgegriffen werden.(jgü)


Durch das neue Gesetz müssen künftig die Krankenkassen die Kosten für die Therapie mit dem Medizin-Hanf übernehmen, wenn einem Kranken nichts anderes mehr hilft. Auch vor der Gesetzesänderung gab es für Schwerkranke Cannabis – nur bedurfte es einer Sondergenehmigung und der bürokratische Aufwand war groß. Zudem war nicht sicher, ob Patienten die Kosten von den Kassen zurückerstattet bekamen.

Schwerkranke Lilly bekommt sechs Mal täglich Cannabistropfen

Lilly bekommt Cannabis in Form von Tropfen – zusätzlich zu den anderen acht Medikamenten, die sie nehmen muss. Sechsmal am Tag werden ihr diese aufgelöst in Tee verabreicht. Die Wirkmenge entspricht dabei dem Zwanzigstel eines Joints. „High wird Lilly dadurch nicht“, betont Neurologin Steffi Patzer. Aber es bewirkt, dass die spastischen Anfälle seltener werden, ihr Körper Ruhe finden kann. Auch Lillys Eltern sind von der Wirkung überzeugt. „Es geht ihr dadurch viel besser. Sie hat ein entspannteres Leben und viele Zustände, in denen es ihr gut geht“, sagt Stefan Damm.

„Es gibt Momente, die frustrierend sind.“

Stefan Damm, Lillys Vater

Und trotzdem bleiben Rückschläge nicht aus. Wenn Lilly wieder ein Anfall quält, sieht man den Schmerz in ihrem Gesicht. Dann schwitzt sie, bekommt Herzrasen, wird unruhig. Ein Anfall war so heftig, dass sie sich das Bein brach. „Das tut uns natürlich jedes Mal weh“, sagt Vater Stefan Damm. Er und seine Frau Anita nehmen Lilly während der Anfälle in den Arm, sprechen mit ihr, machen Musik an. Nicht jedes Mal hilft das. „Es gibt Momente, die frustrierend sind“, sagt er.

Ein Heilmittel gegen Lillys Behinderung gibt es leider nicht, ihre Krankheit ist bisher kaum erforscht. „Die eigentliche Ursache für Lillys Krankheit haben wir noch nicht gefunden“, sagt Neurologin Patzer. Trotzdem geben Lillys Eltern geben nicht auf: „Wir wünschen uns, dass Lilly noch viele entspannte und wache Momente erleben kann“, sagt Stefan Damm. „Auf mehr wagen wir gar nicht zu hoffen.“ (mz)

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