Kathrin Hirschfeld ist Extrempendlerin. Jede Woche fährt sie über 300 Kilometer von Naumburg nach Wuppertal. Über den ständigen Konflikt zwischen Familie und Traumjob. 

Von Janine Gürtler


Die Ferien von Kathrin Hirschfeld beginnen jeden Freitag am Hauptbahnhof Wuppertal. Am Gleis 1 steigt sie in den ICE 109 Richtung Basel, der sie zum Frankfurt Flughafen Fernbahnhof bringt. 22 Minuten Wartezeit, dann der nächste Zug. Fünf Stunden und neun Minuten braucht sie für die Strecke. „Wenn nichts dazwischen kommt“, sagt sie. Seit vier Jahren pendelt die 45-Jährige für ihren Job zwischen Naumburg und Wuppertal. Nur am Wochenende ist sie zu Hause: „Für mich ist das jedes Mal wie ein Kurzurlaub.“

Hirschfeld ist eine von 30 Millionen Berufspendlern in Deutschland. Und es werden mehr. 2015 erwartet das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln einen neuen Rekord. Fast 40 Millionen Menschen werden täglich oder mehrmals wöchentlich pendeln, so die Prognose des Instituts. „Der Trend wird sich in absehbarer Zeit nicht umkehren“, sagt Christian Holz-Rau von der Technischen Universität Dortmund.

Laut dem Verkehrsforscher pendelt jeder zweite Berufstätige zur Arbeit. Pendeln ist aber nicht gleich Pendeln. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts braucht rund die Hälfte der Erwerbstätigen maximal eine halbe Stunde zum Büro. Rund 1,5 Millionen fahren dagegen wie Hirschfeld mehr als 50 Kilometer zur Arbeit. Im vergangenen Jahr hat sie 21 Tage auf Schienen verbracht.

„Wir sind heute mobiler“, begründet Holz-Rau den Trend zum Nomadenleben. Immer mehr Menschen können sich ein Auto leisten, auch das öffentliche Verkehrsnetz ist gut ausgebaut. Gleichzeitig fordere der Arbeitsmarkt mehr Flexibilität. „Besonders qualifizierte Arbeitnehmer finden selten den passenden Job um die Ecke“, so Holz-Rau.

Pendeln für neue Herausforderungen

Katrin Hirschfeld hatte einen Job um die Ecke. Bis vor vier Jahren arbeitete sie im Kundenservice einer Krankenkasse in Halle. In Teilzeit, um mehr Zeit für die Kinder zu haben. Aber Hirschfeld will etwas Neues. Haus, Garten und Hof reichen nicht mehr. Als ihre Firma Mitarbeiter für ein neues Projekt in Wuppertal sucht, bewirbt sie sich. Und bekommt die Zusage. „Ich habe genau eine Nacht darüber geschlafen“, erzählt sie.

„Ich habe genau eine Nacht darüber geschlafen.“

Katrin Hirschfeld

Innerhalb von drei Wochen sucht sie sich eine Wohnung in Wuppertal, organisiert den Umzug. Ihre Kinder sind zu der Zeit zwölf und 17 Jahre alt. „Mein Sohn wollte nicht, dass ich gehe. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass Arbeit glücklich machen muss.“ Und Hirschfeld ist glücklich. In Wuppertal hat sie neue Aufgaben, mehr Verantwortung – und bekommt auch mehr Gehalt. Im Osten wäre das nicht möglich gewesen, sagt sie.

Umziehen oder Pendeln: Wer Karriere machen will, muss das Nomadenleben in Kauf nehmen. Vor allem der Pendlerstrom von Ost nach West ist enorm: 400 000 Beschäftigte pendelten 2010 von Ost- nach Westdeutschland, den umgekehrten Weg traten dagegen nur rund 104.500 Westdeutsche an.

„Mobilität wird heute in fast allen Branchen vorausgesetzt“, sagt Anette Haas vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Weil die wenigsten jedoch ihre Heimat aufgeben wollen, fahren Arbeitnehmer lieber quer durch die Republik. „Ein festes Schema gibt es nicht“, sagt die Mobilitätsforscherin. Gependelt werde nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Stadt und Land. Besonders Metropolen wie Hamburg oder München seien Pendlermagneten. Die Erklärung ist einfach: Große Städte böten gerade Höherqualifizierten attraktive Arbeitsplätze. „Pendler profitieren von höheren Einkommen, ohne dafür umziehen zu müssen.“

Pendeln kann krank machen

Aber die mobile Gesellschaft fordert ihren Preis. Für viele bedeutet Pendeln purer Stress. Im Extremfall kann es sogar krank machen. Laut dem Fehlzeitenreport 2012 der Krankenkasse AOK steigt bei Pendlern mit weiten Strecken das Risiko psychischer Erkrankungen um 20 Prozent. Forscher der Universität im schwedischen Umeå gehen sogar noch weiter. Sie untersuchten den Zusammenhang zwischen der Länge des Arbeitsweges und Sterblichkeit. Das Ergebnis: Wer pendelt, stirbt womöglich früher.

Ob Pendeln wirklich krank macht, will Anette Haas nicht pauschal beantworten. Denn Pendeln werde von den Betroffenen ganz unterschiedlich empfunden. „Wer freiwillig pendelt, bewertet seine Situation positiver als jemand, der keine andere Option hat.“ Für Katrin Hirschfeld ist Pendeln pure Entspannung. Die Zeit im Zug nutzt sie zum Lesen oder Stricken. Auch wenn sie flexibler wäre, Autofahren kommt für sie nicht in Frage. „Durch das Zugfahren komme ich ausgeglichen zu Hause an.“

Und dennoch: Das Pendeln ist auch für sie eine Last. Über 4.000 Euro pro Jahr bezahlt Hirschfeld für die Bahncard 100. Bei Elternabenden ihrer Kinder ist sie nie dabei. Unter der Woche müssen Telefongespräche oder WhatsApp die Nähe ersetzen.

„Mein Schwiegervater meint, ich bin verrückt“

Am Wochenende hat sie nicht einmal 48 Stunden, um die verlorene Zeit einzuholen. „Mein Schwiegervater meint, ich bin verrückt“, sagt sie. Dann zuckt sie die Schultern. „Es muss eben sein.“

„Pendeln ist für uns Normalität“, bestätigt ihr Mann Jörg Hirschfeld. Früher war er der Nomade. Für seinen Job als Elektrohandwerker reiste er kreuz und quer durch Deutschland und Europa, war in der einen Woche im Kaukasus, in der anderen im bayerischen Wald. Irgendwann kamen die Schmerzen. Der 47-Jährige wurde mehrfach operiert, die Ärzte verpassten ihm zwei künstliche Hüften. Er wurde berufsunfähig, schulte zum Qualitätsfachmann um. Der Job seiner Frau federt die finanziellen Einbußen ab.

„Pendeln ist für uns Normalität.“

Jörg Hirschfeld

Ein Umzug kam für beide nie in Frage. „Ich will, dass meine Familie dort bleiben kann, wo unsere Wurzeln sind“, sagt Katrin Hirschfeld.

Sonntagmittag in Naumburg. Kathrin Hirschfeld deckt mit ihrer Tochter den Tisch. Mann und Sohn verdrücken sich in die Küche. Die Wand ist voll mit Familienerinnerungen. Eine Postkarte vom gemeinsamen Grönland-Urlaub klebt neben einem Lebkuchenherz vom Hussiten-Kirschfest. Daneben ein Terminplaner. Für jedes Familienmitglied gibt es eine Spalte. Organisation ist alles. „Das heißt nicht, dass unsere Wochenenden komplett durchgeplant sind“, betont Hirschfeld. Es sind vielmehr die kleinen Rituale, die ihre Familie zusammenhalten – trotz der enormen Distanz. In Wuppertal telefoniert sie jeden Morgen mit ihrem Mann. Es geht um alltägliche Dinge: Wie es den Kindern geht, was am Wochenende eingekauft wird. Herrscht bei Streit Funkstille?

Nein, sagt Hirschfeld. Die Wut verraucht über die Woche. Auch die Entfernung kann etwas für sich haben. Vor wenigen Monaten stand sie noch einmal vor der Entscheidung West oder Ost: Ihr Arbeitgeber bietet ihr in Wuppertal einen unbefristeten Vertrag an. Auch über diese Option berät sie mit ihrer Familie. Und entscheidet sich ein zweites Mal für ein Leben in der Ferne. „Ich habe den Rückhalt meiner Familie. Das war mir wichtig.“ Für immer wird es sie wohl trotzdem nicht hier halten. Vielleicht geht sie nach Berlin, vielleicht zurück in die Heimat. „Die Welt ist so schnelllebig, dass man nie weiß, was morgen kommt.“ (mz)


Foto: Andreas Stedtler
Dieser Artikel erschien zuerst auf MZ.de.