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Zwischen Strand und Favelas: Anne feiert Weihnachten auf Brasilianisch

Anne am Strand von Rio de Janeiro

Weiße Sandstrände, daneben Berge voller ärmlicher Ziegelhütten. Seit einem Jahr lebt die Bad Lauchstädterin Anne-Kirstin Berger in Rio de Janeiro. Zur Weihnachtszeit vermisst sie ihre Heimat besonders. Zurück kann und will sie trotzdem nicht so schnell.

Von Janine Gürtler

Anne-Kirstin Berger aus Bad Lauchstädt wird Weihnachten in diesem Jahr ohne ihre Familie feiern müssen. Es gibt auch keinen Christkindlmarkt, keine grüne Tanne – und ganz sicher keinen Schnee. Die 27-Jährige wollte an Heiligabend in der Goethestadt sein. Corona hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schlecht getroffen hat sie es deshalb trotzdem nicht. 

Stattdessen warten heiße 35 Grad, weißer Strand und der Zuckerhut auf sie. Vor einem Jahr ist die junge Frau aus Sachsen-Anhalt nach Rio de Janeiro ausgewandert. Die brasilianische Küstenstadt liegt auf der Südhalbkugel, hier herrscht also gerade Hochsommer. „Die Weihnachtszeit fühlt sich hier definitiv anders an, Traditionen wie den Advent gibt es hier nicht.“ Die Menschen verbringen ihre Freizeit am Strand, die Weihnachtsbäume sind aus Plastik, und in den Straßen verschwinden statt grünen Tannen eher Palmen, Mangobäume und Bananenstauden unter Lichterketten und Lametta. 

Typisch Weihnachtsdeko in Brasilien: In Lichterketten gehüllte Palmen. (Foto: Berger)

Leben in Rio de Janeiro: Immer mit der Zahnbürste in die Uni

In die Stadt am Zuckerhut kam die Auswanderin  aus Bad Lauchstädt auf Umwegen. Rückblick: Berger studiert Internationale Beziehungen in Regensburg. Bei einem Auslandssemester in Belo Horizonte, etwa 400 Kilometer nördlich von Rio, verliebt sie sich vor fünf Jahren in das Land und die Menschen. „Den Brasilianern liegt super viel daran, dass man sich hier wohl und angenommen fühlt“, erklärt die Frau mit den braunen Haaren. Fast jede Woche lernt sie neue junge Leute kennen, wird von völlig Fremden zum Abendessen oder Partys nach Hause eingeladen. „Ich bin eine Zeit lang immer mit Zahnbürste zur Uni, weil ich nie wusste, wo ich vielleicht übernachten würde.“ 

Und dann trifft sie Lucas. Lucas ist Brasilianer, studiert Energie-Ingenieurwesen und begeistert die Deutsche mit seiner Herzlichkeit. Doch erst zwei Wochen vor ihrer Abreise funkt es. „Es hat ein bisschen länger gedauert, bis ich gemerkt habe, dass da mehr ist“, lacht sie. „Aber ab dem Moment, in dem ich den Gedanken zugelassen habe, war ich irre verliebt.“ Seitdem fliegt sie alle fünf bis sechs Monate nach Brasilien, Lucas wiederum besucht sie in Deutschland.

Für die die Liebe in Brasilien geblieben: Beziehung auf 15 Quadratmetern

Als sie ein Praktikum bei einer Werbeagentur in der Nähe von Belo Horizonte ergattert, teilen sich die beiden für vier Monate sein Zimmer. Eine Beziehung auf 15 Quadratmetern. „Das hat uns erst recht zusammengeschweißt“, sagt die 27-Jährige. Ab da steht für die Bad Lauchstädterin fest, dass sie in Brasilien bleiben will. 

Und es ist schließlich ein weiteres Praktikum, das ihr die Tür zu ihrem Traumjob öffnet. Ihre Abschlussarbeit schreibt sie über Favela-Journalisten in Rio de Janeiro, daher will sie für zwei Monate auch vor Ort recherchieren. Eine Woche vor ihrem Abflug nach Rio bekommt sie eine Zusage vom ZDF. Ein vierwöchiges Praktikum, für das sie sich schon Monate zuvor beworben hat. „Ich hatte gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet.“ In der Zeit kommt also alles zusammen. „Ich habe tagsüber beim ZDF gearbeitet, abends an meiner Masterarbeit gefeilt und in jeder freien Minute meine Hochzeit vorbereitet.“ 

Der Aufwand lohnt sich. Beim ZDF ist sie mittlerweile Produktionsassistentin, recherchiert neue Themen für Fernsehbeiträge, findet Protagonisten, führt und übersetzt Interviews. „Es ist unfassbar bereichernd, dass man sich mit so vielen verschiedenen Menschen und Themen auseinandersetzen darf“, sagt die Auswanderin.

Wegen der Pandemie stehen viele Bewohner Rios ohne Job da

Während der Corona-Pandemie lernt sie Menschen wie Suelen kennen, eine junge Brasilianerin deren Kinder eine Sambaschule in Mangueira, einem von Rios Armenvierteln, besuchen. „Sie hatte so viel Müdigkeit in ihren Augen, das habe ich lange nicht mehr aus dem Kopf bekommen.“ Weil Rios Karneval wegen der Corona-Pandemie verschoben wurde, stehen viele Bewohner Rios nun Job da. Auch Suelen kämpft darum, Essen auf den Tisch zu bekommen.

„Manche haben keinen offiziellen Vertrag und verdienen nun überhaupt nichts“, sagt Berger, „sie halten sich nur mit Mühe über Wasser, indem sie Bonbons an Ampelkreuzungen verkaufen oder Staatshilfen bekommen.“ 

“Wenn ich an den Strand gehe, denke ich, ich wohne am schönsten Ort der Welt. Gleichzeitig ist Rio ist aber auch eine ganz schreckliche, extrem harte Stadt.”

Anne-Kirstin Berger

Rio de Janeiro: Schön, aber auch extrem hart

Rio ist wohl das deutlichste Beispiel für die krassen Widersprüche des Landes. Auf der einen Seite hochmoderne Wolkenkratzer, wunderschöne Sandstrände, die Lebensfreude beim Karneval. Auf der anderen Seite die Favelas – die riesigen Armenviertel, in denen Arbeitslosigkeit und Drogenkriminalität den Alltag bestimmen. Berührungspunkte dieser beiden Welten gibt es kaum. „Wenn ich an den Strand gehe, denke ich, ich wohne am schönsten Ort der Welt. Gleichzeitig ist Rio ist aber auch eine ganz schreckliche, extrem harte Stadt.“ 

Sonne, Strand, Samba: Rio de Janeiro gilt als eine der schönsten Städte der Welt. Gleichzeitig ist der Unterschied zwischen Arm und Reich extrem. (Foto: Berger)

Das wird vor allem in den Hunderten Favelas von Rio sichtbar. Seit Anfang des Jahres unterrichtet sie neben ihrem Vollzeitjob auch Englisch für Kinder im Complexo do Alemão, einem verschlungenen Komplex aus 13 Favelas in Rio de Janeiro. Berger nennt es das „andere Rio“. 120.000 Menschen leben laut inoffiziellen Schätzungen hier auf engstem Raum, die Zustände sind teils erbärmlich. An vielen Ecken türmt sich der Müll, braunes Abwasser fließt die winzigen Gassen hinunter. Aus den meisten dieser Siedlungen, die heute von Milizen oder Drogenbanden kontrolliert werden, hat sich der Staat komplett zurückgezogen. 

Weiterlesen auf Seite 2: „Es gab auch Tage, an denen ich heulend im Bus saß.“

Unterricht im Armenviertel von Rio de Janeiro

Trotzdem, betont Berger, stehen die Favelas – anders als von außen wahrgenommen – nicht nur für Armut, Elend, und Gewalt. Hier tobt das Leben, immer und überall. Jugendliche trommeln Samba-Rhythmen auf alten Blechdosen, Mototaxis (Motorräder, die Passagiere mitnehmen) schlängeln sich rasend schnell durch die engen Gassen, die kaum zwei Meter breit sein, Kinder spielen Fußball auf der Straße. „Es ist eher wie eine Stadt in der Stadt, und auch hier gibt es unterschiedliche soziale Schichten.“

Im Complexo do Alemão, das als als eine der größten und
gefährlichsten Favelas Rios gilt, unterrichtet Anne-Kirstin Berger Englisch. (Foto: Berger)

Der Unterricht macht sie glücklich, weil sie etwas zurückgeben kann, sagt sie. Die teils extreme Armut der Menschen geht trotzdem nicht spurlos an ihr vorbei. Kann sie eine ganze Stunde über Essen abhalten, wenn in ihrem Klassenzimmer auch Kinder sitzen, die kaum etwas zu essen haben?

“Es gab auch Tage, an denen ich heulend im Bus saß.”

Anne-Kirstin Berger

„Es gab auch Tage, an denen ich heulend im Bus saß, weil ich kaum fassen kann, wie krass unterschiedlich unsere Lebensbedingungen sind.“ Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie unterrichtet sie ihre Schüler im Alter zwischen neun und neunzehn Jahren nur noch per Zoom. „Das funktioniert echt gut“, sagt Berger, „schließt aber auch einen Großteil aus.“ Denn nicht alle haben Internet zu Hause, geschweige denn einen Laptop oder ein Handy. 

Entzaubertes Land Brasilien

Nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich, auch die Polarisierung der Brasilianer holte die deutsche Auswanderin schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. „Mein Bild vom Land hat sich schon verändert.“ Seit Jahren werden die Gräben zwischen den Anhängern des Präsidenten Jair Bolsonaro und dessen Gegnern immer tiefer, die Polarisierung geht bis ins Private. Mit Lucas’ Verwandtschaft zum Beispiel könne sie sich super unterhalten, sagt sie, „bei manchen von ihnen lasse ich politische Themen aber lieber weg.“ 

Die Deutsche kann nicht nachvollziehen, wie Menschen auf überfüllten Krankenhausfluren an Corona sterben, die Fallzahlen immer weiter ansteigen – und die Beliebtheitswerte von Brasiliens Präsidenten Bolsonaro besser denn je sind. Bolsonaro spielt Corona seit Monaten als „kleine Grippe“ herunter, bezeichnet Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus als Hysterie“ und schiebt der Justiz und den Gouverneuren die Schuld für mehr als 179.000 Corona-Tote zu. „Ich verzweifle manchmal daran, dass Menschen für Ideologien so empfänglich sind“, sagt die junge Frau.

Trotz all dem Leid, sagt Anne-Kirstin Berger, hat die Corona-Pandemie für sie auch etwas Gutes. „Dadurch konnte ich für ein paar Monate mit Lucas zusammenwohnen.“ Denn obwohl sie seit über einem Jahr verheiratet sind, führen die beiden noch immer eine Fernbeziehung. Normalerweise pendelt die Bad Lauchstädterin jedes Wochenende mit dem Bus zwischen Rio und Belo Horizonte, sieben Stunden dauert die Fahrt. Seit dem Höhepunkt der Pandemie im Mai aber ist sie überwiegend in Belo Horizonte und arbeitet von zu Hause aus. 

Zur Weihnachtszeit in Rio kommt auch die Sehnsucht nach Hause

Trotz des Ausmaßes der Coronakrise in Brasilien, den Impuls nach Deutschland zurückzugehen hatte sie nie. Für die Zukunft ausschließen will sie eine Rückkehr jedoch nicht. „Ich habe mich nie bewusst gegen Sachsen-Anhalt entschieden, das hat sich einfach so ergeben.“ Besonders zu dieser Jahreszeit spürt die Auswanderin auch, dass sie ihre Heimat vermisst: Der Schnee, die Beschaulichkeit, der Christkindlmarkt, das Plätzchenbacken mit ihren Großeltern. „Weihnachten ist eine Zeit, in der man auf einmal wieder weiß, wo man herkommt.“ 

Heiligabend verbringt sie nun mit Lucas und dessen Familie. „Wir werden die Palme schmücken und draußen bei 30 Grad im Garten sitzen“, sagt die Auswanderin. Und Lucas’ Familie wiederum wird dann auch eine ganz besondere deutsche Tradition kennenlernen: selbstgebackenen Stollen. „Der geht hier bei der Hitze besonders gut.“


Der Artikel erschien zuerst auf MZ.de.

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