Corona, Wirtschaftskrise, Rassismus, Polizeigewalt. Die Probleme der USA ballen sich in New York. Wie ist die Stimmung so kurz vor der US-Wahl? Ein persönliches Stimmungsbild.
Von Janine Gürtler
Samstagmorgen, 6.45 Uhr in der Warteschlange der Kfz-Zulassungsstelle in Edison, New Jersey. Die Menschen reihen sich über hunderte Meter um das flache Gebäude herum, sie stehen oder sitzen auf mitgebrachten Stühlen, einige von ihnen haben hier übernachtet. Joel Diaz etwa. Der Kfz-Servicetechniker lässt sich dafür bezahlen, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen, damit andere es nicht müssen. 240 US-Dollar kostet es mich und meinen Mann, damit er und seine Mutter uns einen der ersten Plätze sichern.
Seit Monaten wird die Kfz-Zulassungsbehörde dem Ansturm nicht mehr Herr. Wer morgens nicht zu den ersten Hundert in der Schlange gehört, wird weggeschickt. Dreimal haben wir es versucht, dann haben wir keine andere Möglichkeit gesehen, unsere Führerscheine rechtzeitig zu erneuern. Trotzdem fühle ich mich elend, dass wir die beiden stundenlang bei elf Grad in der Kälte sitzen lassen haben. Er aber winkt lachend ab. „Ich verdiene ganz gut damit.“ Die Corona-Pandemie hat nicht nur die soziale Ungleichheit weiter verschärft. Sie hat auch eine neue Klasse von Arbeitern hervorgebracht: „Line holders“, die sich mit Schlangestehen etwas dazu verdienen. Willkommen in den USA. Ein „Land of the free“ nur für jene, die es sich leisten können.
USA: Ein kaputtes System
Seit eineinhalb Jahren lebe ich in Downtown Jersey City, 15 Minuten mit der U-Bahn von Manhattan entfernt. Donald Trump hat in dieser Zeit nicht nur die USA verändert, sondern auch meinen Blick auf Amerika. Waren die Staaten und New York für mich zuvor der Inbegriff für Freiheit und Toleranz, sind sie heute das Sinnbild eines kaputten Systems.
Dass das Land nicht erst seit Trumps Amtsantritt tiefgreifende Probleme hat, wusste ich natürlich schon, bevor ich hierher ausgewandert bin. Schon seit Jahrzehnten zieht sich ein sozialer und politischer Riss durch die USA. Doch dass die Kluft immer tiefer wird, daran haben die Parteien, allen voran Trump, entscheidenden Anteil. Einwanderung, Rassismus, Klimawandel, Gesundheitsversorgung, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch: Bei so gut wie jedem zentralen Thema stehen sich Demokraten und Republikaner unversöhnlich gegenüber. Zwischentöne oder Kompromisse gibt es nicht. Stattdessen zerlegen sich die Staaten Stück für Stück selbst. Und die Menschen darin gleich mit.
“Zwischentöne oder Kompromisse gibt es nicht.”
Ohne Frage, Trump ist einer der umstrittensten Präsidenten der USA. Doch trotz all seiner Skandale und Affären steht der harte Kern seiner Anhänger weiter hinter ihm, ist er weiter im Amt. Wie kann das sein?
Wer steht hinter US-Präsident Trump?
In Wahlumfragen und Studien kristallisiert sich seit langem heraus, dass Trumps Anhänger vor allem konservativ, christlich-evangelikal und weiß sind. Aber selbst Mexikaner, Afroamerikaner, Homosexuelle und Juden – Menschengruppen also, die Trump offensichtlich verachtet und immer wieder öffentlich verhöhnt – erscheinen noch immer zu seinen Wahlkampfauftritten. Dabei mögen beileibe nicht alle seinen Charakter, wie ich in Gesprächen erfahre. Aber viele Amerikaner mögen die konservative und egozentrische Denkweise, für die er steht. Manche wählen ihn nur, weil er gegen Abtreibung ist oder die Rettung der Kohle-Industrie versprochen hat. Oder weil sie Trumps Maxime „America first“ unterstützen. Viele Trump-Wähler von 2016 sind überzeugt, dass er seine Wahlversprechen wahr gemacht hat. Etwa bei der Besetzung des Obersten Gerichts mit konservativen Richtern, dem Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen oder beim Bau der Mauer zu Mexiko.
Seit der Corona-Krise aber sind seine Beliebtheitswerte gesunken. In Wahlumfragen liegt Trump deutlich hinter Joe Biden. „Niemand, den ich kenne, ist zufrieden mit Trumps Politik“, sagt etwa Alana Pockros, eine Kollegin. „Jeder fragt sich, ob es noch schlimmer kommen kann.“ Die 26-jährige New Yorkerin glaubt, dass sich die Einstellung der Hardcore-Anhänger Trumps nie ändern werde.
“Niemand, den ich kenne, ist zufrieden mit Trumps Politik.”
Spaltung, Gewalt, Rassismus in Amerika
Wer durch die städtischen Vororte und ländlichen Regionen der USA fährt, sieht, wie weit die Polarisierung geht. Statt Laternen mit Wahlplakaten zu behängen, zeigen die US-Amerikaner mit „Front yard signs“ in ihren Vorgärten, wo sie stehen. Das Politische ist soweit ins Private vorgedrungen, dass Familien auseinander driften, ja sogar Freundschaften kaputtgehen. In den Nachrichten laufen Bilder von brennenden Heuballen, die angezündet wurden, weil ein Farmer „USA vote Biden-Harris 2020“ aufgemalt hatte.
Doch nicht nur, wenn es um die politische Einstellung geht, scheinen viele meiner neuen Landsleute unversöhnlich. Auch der durch vier weiße Polizisten verursachte gewaltsame Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd und die folgenden landesweiten Proteste haben die Menschen gegeneinander aufgebracht. Rassismus, ein tief verwurzeltes Problem in der amerikanischen Gesellschaft, ist zwar nicht neu. Aber unter der Regierung Trumps ist er sichtbarer, salonfähiger geworden. Selbst im liberalen New York.
Das bestätigt mir auch Tamara Handgrätinger, die ich hier kennengelernt habe. „Mein Bild von der Polizei hat sich total geändert“, so die Bank-Analystin. „Mit welcher Aggressivität die Polizei gegenüber schwarzen Demonstranten vorgegangen ist, war einfach krass.“ Sie sei kein großer Fan von Joe Biden, aber alles sei besser, als Trump noch einmal vier Jahre ertragen zu müssen.
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New York City: Eine Stadt, viele Krisen
Die Probleme der USA sind vor allem hier in New York spürbar. Corona, Rezession, Rassismus, Polizeigewalt – in der Millionenstadt ballen sich sämtliche Auswirkungen der Trump-Politik. Das zeigt sich vor allem im Herzen der Stadt. Midtown habe ich noch als protziges Machtzentrum kennen gelernt, heute ist es schwer angeschlagen. Die Broadway-Bühnen und Carnegie Hall sind dicht. Viele Bürotürme stehen so gut wie leer. Zahlreiche Geschäfte haben ihre Schaufenster vernagelt oder sie sind ausgezogen: „Dauerhaft geschlossen!“, „Shop zu vermieten“ – überall in New York, über Kilometer den Broadway entlang, sehe ich solche Schilder.
Mehr als 7.000 von New York City’s Unternehmen haben seit dem 1. März aufgegeben, ist im Online-Branchenbuch Yelp zu lesen. Und die Zukunft sieht nicht rosig aus. Etwa ein Drittel der 240.000 Kleinunternehmen der Stadt wird wohl nie wieder eröffnen, mehr als eine halbe Million Menschen haben allein in diesem Sektor bereits ihren Job verloren, sagen Experten. Trumps amerikanischer Turbo-Kapitalismus, er hat besonders in New York einen großen Knacks bekommen.
Viele New Yorker sehen ihren Präsidenten als den Hauptverantwortlichen. Als er Corona noch verharmloste, kehrten viele ihrer Stadt den Rücken. Etwa 420.000 Einwohner verließen den Big Apple allein zwischen dem ersten März und ersten Mai. Auch ich wäre zwischendurch am liebsten gegangen, um für ein paar Monate raus aus der Enge meiner 60-Quadratmeter-Wohnung zu kommen und bei meiner Familie zu sein. Doch dank Trumps „Travel ban“ hätte ich trotz Visum nicht wieder einreisen können.
Sind die USA am Ende?
Die große Frage ist: Rappeln sich die Vereinigten Staaten zusammen – und mit ihnen auch New York wieder auf? Es kommt darauf an, wen man fragt. Geht es nach dem Schriftsteller George Packer, lebe ich in einem gescheiterten Staat. Inkompetenz an der Macht, Verschwörungstheorien, Wunderheilmittel: Corona habe, so schrieb Packer in einem Essay im „The Atlantic“, den Amerikanern gezeigt, dass sie einem korrupten Regime ausgeliefert sind.
Doch am Ende sind die Vereinigten Staaten in meinen Augen trotzdem nicht. Das sehe ich vor allem in New York, wo das Leben, trotz allem, so langsam wieder aufblüht. „Hoping for the best, prepared for the worst“ – Das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein: So kann man die Stimmung hier wohl am besten beschreiben. Mit dem sturen Willen, aus jeder Situation das Beste zu machen, eroberten wir uns im Sommer unsere Stadt zurück, allen voran die Restaurants, Bars und Parks. Am Times Square sehe ich schon wieder die ersten Touristen und Taxis, und mit ihnen sind auch die Rikschafahrer, Doppeldeckerbusse und verkleidete Comic- und helden wie Batman und Spiderman zurückgekehrt.
Und es gab gerade auch in Zeiten von Corona viele Momente, die zeigen, dass Amerikaner in Krisen zusammenhalten. Über Monate gingen Freiwillige für Risikogruppen einkaufen. Wochenlang haben New Yorker für den Einsatz des Medizinpersonals geklatscht, haben sich Wildfremde in Facebook-Gruppen organisiert, um sich gegenseitig zu helfen und Mut zuzusprechen. Egal welchem politischen Lager sie angehören. Die Amerikaner können sich schneller neu erfinden als jede andere Nation. Genau deshalb habe ich wie viele New Yorker die Hoffnung, dass Trump am 3. November abgewählt wird. Sonst sieht es düster aus.
Der Artikel erschien zuerst auf MZ.de