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Deutsch lernen per TikTok? Geht!

Zumindest, wenn man Mandy Engelhardt fragt. Die 27-Jährige aus Bennungen arbeitet seit drei Jahren als Grundschullehrerin in Bolivien – und wurde in der Corona-Krise kreativ. Warum sie jetzt zurückkehren muss.

Von Janine Gürtler

Wie alt wird eigentlich ein Lama? Wie ist das menschliche Skelett aufgebaut? Fragen wie diese erklärt Mandy Engelhardt ihren Schülern aus der dritten Klasse nicht an der Tafel, sie lässt sie TikTok-Videos dazu drehen. Die Video-App, die die Smartphones von Millionen von Kindern und Teenagern erobert hat, ist normalerweise eher auf Pausenhöfen statt im Klassenzimmer der Renner. Für Engelhardt aber ist die Plattform eine kreative Art, um ihre Schüler auch in Zeiten von Corona und Distanzunterricht für Deutsch, Mathe und Co. zu begeistern. 

Die 27-Jährige aus Bennungen in Mansfeld-Südharz unterrichtet seit 2017 an einer deutschen Schule im bolivianischen Santa Cruz. Was als unbeschwertes Auslandsabenteuer begann, ist nun jedoch bitterer Ernst geworden. Seit dem Überschwappen der Corona-Pandemie auf den Andenstaat durchlebt Engelhardt wie Millionen Bolivianer den Ausnahmezustand.

“Wir durften monatelang nur jeden zweiten Tag das Haus verlassen, und das auch nur zu bestimmten Zeiten.”

Mandy Engelhardt

Nachdem im März die ersten Corona-Fälle in Bolivien bekannt wurden, hat sich das Land quasi abgeriegelt. Der internationale Flugverkehr ist gestoppt, Restaurants, Bars und Schulen sind seit Monaten geschlossen. „Wir durften monatelang nur jeden zweiten Tag das Haus verlassen, und das auch nur zu bestimmten Zeiten“, erzählt die junge Lehrerin. 

Mandy Engelhardt lebt und arbeitet seit drei Jahren in Bolivien. (Foto: Engelhardt)

Und während Deutschlands Schulen nach der richtigen Balance zwischen Regelunterricht und Maskenpflicht suchen, wissen Millionen von Schülern in Bolivien noch nicht, wann sie überhaupt wieder im Klassenzimmer sitzen. Bis zum Jahresende bleiben die Schulen im gesamten Land aufgrund steigender Infektionen geschlossen. Eine Entscheidung, die die Kluft zwischen Arm und Reich in Bolivien weiter vertieft. Denn gerade in den ländlichen Regionen können sich viele Familien keinen Internetzugang leisten –  oder es gibt überhaupt kein Internet. „Für die Kinder ist das eine Katastrophe”, sagt Engelhardt. 

Weiter als das deutsche Schulsystem

Auch die deutsche Schule von Mandy Engelhardt ist seit Mitte März geschlossen, doch der Unterricht geht hier online weiter. „Die Schule wird privat finanziert, die Eltern können sich Internet und die notwendige Technik also leisten.“  184 Tage stand Engelhardt nicht mehr im Klassenzimmer, hat deshalb Tafel und Kreide gegen Laptop und Videokonferenzen getauscht. Mathe, Deutsch, Sachkunde, Kunst – all das unterrichtet die Auswanderin jetzt online. Nur geht sie dabei einen Schritt weiter, als man es wohl im deutschen Schulsystem erwarten würde. 

Sie bereitet nicht nur Lernvideos vor und fragt Mathelösungen in Videokonferenzen ab. Sie motiviert ihre Schüler dazu, selbst kreativ zu werden. Die quirlige Sachsen-Anhalterin lässt die Kinder Videos produzieren, Online-Bücher schreiben und den wöchentlichen Lehrplan per Online-Abstimmung mitbestimmen. All das, um den Kindern trotz der räumlichen Distanz den Spaß am Lernen zu vermitteln. „Am Anfang wusste ich nicht, was die Kinder allein am Computer machen können“, sagt die Auswanderin, „und ob sie mich überhaupt verstehen.“ Denn obwohl die Kinder seit der Einschulung Deutsch lernen, sind die wenigsten von ihnen Muttersprachler. 

Unterricht per Tablet: Mandy Engelhardt sieht ihr Schüler seit Monaten nur noch online. (Foto: Engelhardt)

Doch die Acht- bis Neunjährigen lernen rasend schnell dazu. „Es ist toll zu sehen, wie sie mit der Technik umgehen, zum Teil besser als die Erwachsenen“, sagt Engelhardt und ist merklich stolz. Doch trotz aller Kreativität und Aufgeschlossenheit ihrer Schüler – der direkte Kontakt im Klassenzimmer fehlt ihr. „Ich bin ja nicht Lehrerin geworden, um nur vor dem Laptop zu sitzen.“

Ohne Wohnung nach Bolivien

Rückblick. Mitte 2017 zog es Engelhardt von Bennungen, einem verschlafenen Dorf im Mansfeld-Südharz mit kaum 800 Einwohnern, in die lebhafte Millionenmetropole Santa Cruz. Nach ihrem Referendariat wollte die frischgebackene Lehrerin hier ein Jahr an der deutschen Schule unterrichten, mittlerweile sind es drei geworden. „Ich wollte einfach nicht so schnell zurück“, sagt die selbstbewusste Frau und lacht. Dabei stand ihr Auslandsabenteuer anfangs unter keinem guten Stern. 

Als sie ankommt, hat sie weder eine Wohnung noch spricht sie ein Wort Spanisch. „Ich kam hier an und dachte: ‘Was soll das werden?’“, erinnert sich Engelhardt. Die Schulleitung aber sagt ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, gemeinsam werde man schon etwas finden. Und tatsächlich: Nach nur einer Woche findet sie dank Kontakte ihrer Schule eine Wohnung. So kann es gehen in Bolivien. 

„No te preocupes – Mach dir keine Sorgen“, ist hier auch eine Lebenseinstellung. „Egal was das Problem ist, am Ende klappt es immer irgendwie“, sagt Engelhardt. Das liegt auch an der Herzlichkeit vieler Bolivianer. „Die Menschen hier sind wahnsinnig warmherzig.“ Wenn sie in den ersten Monaten mit gebrochenem Spanisch nach dem Weg fragt, bekommt sie nicht nur eine Wegbeschreibung: Die Bolivianer bringen sie direkt dorthin oder verhandeln mit dem Taxifahrer, damit sie nicht den „Touristenpreis“ zahlt. 

Auf Seite 2 weiterlesen: Bolivien – Ein Land mit zwei Gesichtern

Riesige Wochenmärkte, bittere Armut

Auch an Santa Cruz selbst verliert sie schnell ihr Herz. Sie liebt das geschäftige und laute Treiben auf den Straßen, die bunten Häuser, von denen keines dem anderen gleicht, und die riesigen Wochenmärkte, in denen „Fleisch auch bei 36 Grad an der frischen Luft hängt“. 

In Bolivien sind die Märkte im Gegensatz zu Europa noch immer die wichtigsten Umschlagplätze von Lebensmitteln. (Foto: Lesly Derksen on Unsplash)

Sie probiert Früchte, von denen sie zum Teil noch nie gehört hat. Chirimoya zum Beispiel, eine Art süßer, grünlicher Apfel, deren Geschmack an Birnen erinnert, oder Achachairú, eine kleine süß-saure Frucht aus dem bolivianischen Regenwald, die es nur jetzt im August und September gibt. Und sie gewöhnt sich an das typische bolivianische Frühstück, dass für deutsche Mägen eher einem Abendessen gleicht: Salteñas (mit geschmortem Fleisch und Gemüse gefüllte Teigtaschen).  

Aber Bolivien, merkt die junge Frau, ist ein Land mit zwei Gesichtern. Während die 27-Jährige in einem der wohlhabenderen Viertel von Santa Cruz wohnt, in denen die Wohnkomplexe von Sicherheitskräften bewacht werden, stehen in anderen Ecken der Stadt Armut und Kriminalität auf der Tagesordnung. „Viele Menschen leben von der Hand in den Mund“, sagt die Auswanderin, „und die Quarantäne verschlimmert die Situation noch.“ 

Menschen sterben auf den Straßen

Das ohnehin marode Gesundheitssystem des Landes steht seit Ausbruch des Coronavirus vor dem Kollaps. In Santa Cruz, aber auch in anderen Teilen Boliviens, sind die Krankenhäuser hoffnungslos überlastet. Auf der vergeblichen Suche nach einem Krankenhaus, das sie aufnimmt, sterben viele infizierte Menschen auf der Straße oder in ihren Autos.

“Viele Menschen leben von der Hand in den Mund und die Quarantäne verschlimmert die Situation noch.”

Mandy Engelhardt

Hunderte Leichname von Corona-Opfern wurden zuletzt landesweit in Straßen geborgen und aus Wohnungen geholt. „Meine Freunde verstehen das oft nicht, aber viele Menschen hier können sich eben keine Masken, Handschuhe oder Desinfektionsmittel leisten“, sagt Engelhardt. „Die Leute gehen weiter auf die Märkte, oft ohne Schutz. Natürlich steckt da einer der anderen schnell an.“

In dem südamerikanischen Land hat sich das Coronavirus rasend schnell ausgebreitet. Bolivien zählt über 124.000 bestätigte Corona-Fälle, Santa Cruz zählt rund ein Viertel davon. Die Dunkelziffer liegt jedoch um einiges höher, schätzen Experten. 

Hinzu kommen politische Unruhen, die das Land bereits 2019 in eine Krise stürzten und nun erneut aufflammen. Und die sind es letztendlich, die die Frau aus Sachsen-Anhalt dazu bewogen haben, Bolivien vor dem offiziellen Ende des Schuljahres im November zu verlassen. „Die Stimmung in Bolivien schlägt hier so schnell um. Von einem auf den anderen Tag kann es wieder Straßensperren wie im vergangenen Jahr geben – dann kommt man nicht mal mehr zum Flughafen.“

In wenigen Tagen steht ihr Rückflug nach Deutschland an. „Es ist ein richtig mulmiges Gefühl, nach drei Jahren förmlich zu fliehen“, sagt die Auswanderin, „und die Kinder ohne richtige Verabschiedung zu verlassen.“ Dazu kommt, dass sie zu Hause in Deutschland weder eine eigene Wohnung noch eine feste Arbeitsstelle hat. „Ich müsste erstmal wieder in meinem Kinderzimmer einziehen.” Auch deshalb will die Sachsen-Anhalterin ihren Traum vom Unterrichten im Ausland noch nicht ganz begraben. Vor ein paar Wochen hat sie sich an verschiedenen Deutschen Schulen in Südamerika beworben. Die Antwort steht noch aus. 


Der Artikel erschien auf MZ.de.

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