Während in Deutschland die traditionelle Backkunst ums Überleben kämpft, gibt es im Ausland einen regelrechten Hype auf „German Bread“. Wie ausgerechnet ein Armenier in den USA ein Geschäft daraus macht.
Von Janine Gürtler
„Fühlt euch wie zu Hause.“ So begrüßt Haytad Urachyan praktisch jeden, der seine Bäckerei in Hoboken, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat New Jersey, betritt. Dabei ist sein eigenes Zuhause etwa 6.000 Kilometer Luftlinie entfernt. Für den gebürtigen Armenier, der fast 20 Jahre in Köln lebte, bevor es ihn 2002 in die Staaten zog, ist „zuhause“ ein dehnbarer Begriff. Deutschland war für ihn lange Zeit eines, wirklich frei und angekommen fühlte er sich aber erst in den USA. „Hier interessiert es keinen, wo du herkommst“, sagt Urachyan. „Hier kommt jeder von irgendwo her.“
Und so ergibt es auch durchaus Sinn, wenn ein Armenier mit kölschem Herzen den US-Amerikanern süße und herzhafte Versuchungen deutscher Backkunst näherbringt. Sauerteigbrot, Mehrkornbrot, Sonnenblumenkernbrot, Kürbiskernbrot, Roggenbrot, Brezeln, Apfelstrudel, Donauwelle, Schwarzwälder Kirschtorte – was auch immer man als Deutscher in der Brotwüste USA vermissen könnte, findet man in Urachyans „Old German Bakery“.
Warum deutsches Handwerksbrot konkurrenzlos ist
Wie aber schafft er es, die Amerikaner für Roggenbrot und Co. zu begeistern, wenn viele nur windelweiches Toastbrot aus dem Supermarkt kennen? Und dann auch noch in einer Kleinstadt mit gerade mal 55.000 Einwohnern?
Man muss nicht ein Leben lang amerikanisches Weißbrot gegessen haben, um zu wissen, dass deutsches Handwerksbrot konkurrenzlos ist. Wer bei Youtube „German Bread“ (deutsches Brot) eingibt, stößt auf Dutzende Hype-Videos und Backanleitungen. Da filmen sich Amerikaner dabei, wie sie „zum allerersten Mal deutsches Brot“ essen oder philosophieren über die Eigenheiten von Pumpernickel und Mischbrot – und sammeln so Zehntausende Klicks.
Und nicht nur die Amerikaner sind auf den Geschmack gekommen. Im Jahr 2014 wurde die deutsche Brotkultur zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt. Im beschaulichen Weinheim in Baden-Württemberg lernen Brotfans aus aller Welt, wie man Hefezöpfe zwirbelt, Wurzelbrot knetet und Hefeschnecken bäckt. In der Heimat wollen sich viele mit dem „Diploma in German Baking“ den Traum der eigenen Bäckerei erfüllen. Wer sucht, der findet deutsche Bäckereien fast überall auf der Welt: in Brüssel, in Los Angeles, in Istanbul, in Buenos Aires, sogar in Peking.
Traditionsbäckereien in Deutschland sterben aus
Die Welt weiß also, was sie am deutschen Brot hat – die Deutschen selbst eher weniger. Denn hierzulande haben Traditionsbäckereien ein Problem: Sie sterben aus. Gab es laut dem Verzeichnis der deutschen Handwerksbetriebe „Handwerksrolle“ vor 60 Jahren noch rund 70.000 Bäckereien, sind es heute nur noch knapp 11.000. Viele geben auf, weil sie gegen die Preise der Supermärkte nicht konkurrieren können, der Nachwuchs fehlt, die Bürokratie zu viel wird. Wer überleben will, braucht eine besondere Idee. Oder einen guten Riecher. So wie Haytad Urachyan.
Denn der Bäcker hat sich im Gegensatz zu anderen deutschen Bäckereien in New York bis heute gehalten. Im Big Apple gab es vor allem am „Sauerkraut Boulevard“, der 86. Straße im einst deutschen Einwandererviertel Yorkville an der Upper East Side, Dutzende deutsche Bäckereien und Restaurants. Das war allerdings vor mehr als 100 Jahren.
Eine Einrichtung nach der anderen ging über die Jahrzehnte ein, zuletzt schmiss 2018 Manhattans letzter deutscher Bäcker, „Glaser’s Bake Shop“, nach 116 Jahren Tradition den Teigroller hin, weil sich kein Nachfolger fand. Heute gibt es echte deutsche Backkunst nur noch bei Holtermann’s Bakery in Staten Island – oder einen Sprung von Manhattan über den Hudson River entfernt bei Urachyan.
So kommt deutsche Gemütlichkeit nach New Jersey
Sein kleiner Laden versprüht ein Flair deutscher Gemütlichkeit, das amerikanische Bäckerei-Riesen wie „Panera“ oder „Au bon pain“ längst gegen vorgepackte Sandwiches, Bestellterminals und Aufbackautomaten getauscht haben. Dunkelbraune Holztische stehen hier in einem Verkaufsraum, der so schmal ist, dass man sich bei mehr als fünf Kunden in der Warteschlange kaum noch bewegen kann.
„Die New Yorker suchen das Exotische.“
An einer der gelb gestrichenen Wände kann man die jüngsten Kunstwerke von Urachyans Tochter Arsima bewundern: einen Regenbogen, Delfine, Schmetterlinge, einen Schneemann. Die Neunjährige selbst wuselt munter hinter und vor der Ladentheke herum, räumt Teller ab, begrüßt die Gäste. Es sind Ferien, da kann sie mit anpacken. „Es ist ein Familiengeschäft“, sagt Urachyan stolz.
Und das Geschäft brummt. Unter seinen Kunden sind viele Deutsche, aber auch junge amerikanische Familien mit Kindern, Rentner und Auswanderer wie Urachyan. Majeed Simaan aus Israel lebt seit sechs Jahren in den USA und glaubt zu wissen, warum die deutsche Bäckerei hier so gut ankommt. „Die New Yorker suchen das Exotische“, sagt Simaan, „das, was man nicht überall bekommen kann.“
Ein abgepackter Cheescake von Walmart sei eben nicht so exklusiv, wie die Donauwelle von Haytad Urachyan. Auch James Riordan ist seit Jahren Stammgast. „Das Brot ist nicht so süß wie das amerikanische, das oft nur nach Zucker schmeckt“, sagt der 49-Jährige. Er kommt zwei bis drei Mal die Woche vorbei, schätzt vor allem das Rosinenbrot und den guten Kaffee, „der schmeckt viel besser als bei Starbucks“.
„Manche fahren zwei Stunden bis zu mir und decken sich mit Broten ein“
Urachyan hat sich mit seiner Bäckerei einen Ruf erarbeitet, der längst über die Stadtgrenzen von Hoboken hinausgeht. Seine Kunden kommen aus Brooklyn, New Yorks Vororten wie Red Bank und Yonkers, sogar aus dem Nachbarbundesstaat Pennsylvania. „Manche fahren zwei Stunden bis zu mir und decken sich mit Broten ein“, sagt Urachyan. Um Konkurrenz durch oft billigere Bäckerei-Ketten macht er sich deshalb keine Sorgen. „Nur, wenn jemand auch eine deutsche Bäckerei eröffnen würde, wäre das Konkurrenz für mich“, meint er selbstbewusst.
Bäckermeister Urachayan liebt den Plausch mit seinen Kunden, besonders aber mit den deutschen unter ihnen. Dann blüht er förmlich auf, fragt, aus welcher Stadt sie kommen und wird nie müde zu betonen: „Alles deutsch hier“. Und tatsächlich kommt fast jede Zutat – das Mehl, die Milch, sogar die Sauerkirschen für die Schwarzwälder Kirschtorte – aus Deutschland, versichert Urachyan. Das erklärt vielleicht auch, warum ein Brot hier etwa sieben Dollar (umgerechnet 6,28 Euro) kostet.
Auch für eine wohlhabende Gegend wie Hoboken ist das ein stolzer Preis. „Ich erkläre meinen deutschen Kunden immer, dass sie ihre Festplatte formatieren müssen“, sagt Urachyan und lacht. Die deutschen Brotpreise könne man eben nicht mit den Brotpreisen in den USA vergleichen. Hier kostet schon ein „Vollkornbrot“ im Supermarkt, das eher an dunkles Toast erinnert und labbrig-süß schmeckt, drei Dollar.
Hinter Urachyans Broten steckt aber auch deutlich mehr Arbeit. Bis zu 20 verschiedene Brotsorten bäckt er jeden Tag, steht dafür morgens ab vier Uhr in seiner Backstube. 16 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche – das ist für ihn Alltag. Wie schafft man das? Er zuckt mit den Schultern, lächelt. „Ohne Liebe schafft das keiner.“ Dann öffnet sich die Ladentür – und Urachyan ist wieder in seinem Element.
Fotos: Janine Gürtler
Dieser Text erschien zuerst auf MZ.de.